Ende des 18. Jahrhunderts, als Ambrosius Arimond sich auf eine mehrjährige Reise begibt, um die universelle Sprache der Vögel zu entdecken, ist Afghanistan vor allem eins: weit weg. Drei Jahre benötigt der Vorfahr von Paul Arimond, um aus seiner Eifler Heimat in das Land am Hindukusch zu wandern, wo er sich auf Grund der einzigartigen Artenvielfalt Aufschlüsse für die Vogelkunde erhofft. Obwohl die Aufzeichnungen weitestgehend verloren gehen, ist Familie Arimond auch Generationen später noch angetan von Ambrosius‘ Spezialgebiet, der Ornithologie.
Paul ist Anfang 20, als es ihn auch noch Afghanistan verschlägt. Als Sanitäter bei der Bundeswehr fährt er 2003 in das Land, das sein Vorfahre als malerisch und exotisch empfand, und das jetzt ein unwirtlicher und beängstigender Kriegsschauplatz ist. Für Paul ist der Auslandseinsatz eine gute Gelegenheit, von zu Hause wegzukommen, denn Kall, das Städtchen in der Eifel, aus dem er kommt, ist nicht nur geographisch Tausende von Kilometern entfernt. Fremder könnte die Welt nicht sein, und das ist für Paul genau die Distanz, die er braucht: Seine Freundin hat sich mehr oder weniger von ihm getrennt, der Vater Selbstmord begangen, die Mutter ist mit sich selbst und ihrer neuen Beziehung beschäftigt und Jan, Pauls bester Freund, ist seit einem Auto-Unfall ein Pflegefall.
Im Lager in Afghanistan bleibt Paul der Außenseiter, auch wenn er sich mit den Kameraden gut versteht. Doch sein eigentlicher Wunsch ist der gleiche, den auch sein Vorfahr umtrieb. Auch Paul möchte die Sprache der Vögel ergründen. Und so ist er mehr daran interessiert, wie er das Lager verlassen und Vögel beobachten kann, als daran, Anschluss zu finden.
Die Sprache der Vögel findet sich am Hindukusch
Die Sprache der Vögel ist weitestgehend als Tagebuch formuliert, in dem Paul seine Erlebnisse in Afghanistan beschreibt und die Ereignisse in der Eifel, die ihn schließlich an den Hindukusch gebracht haben, Revue passieren lässt. Der Gegensatz zwischen der dem Zeitgeschehen gegenüber gleichgültigen Natur einerseits und den dem Schicksal und der Politik unterworfenen Menschen andererseits ist dabei allgegenwärtig. Paul möchte sich am liebsten nur um die Vögel kümmern, die vielen verschiedenen Arten bestimmen und mit einer aus Kaffee angerührten Farbe in sein Tagebuch zeichnen – Zeichnungen, die Norbert Scheuers Roman zahlreich durchziehen und bereichen. Stattdessen muss er sich an Militär-Regeln halten, ist dazu verurteilt, im Krankenlager Langeweile zu erdulden und den Befehlen seiner Vorgesetzten Folge zu leisten. Dabei schleichen sich immer mehr Hinweise auf eine zunehmende Gefahr in Pauls Tagebucheinträge – Raketen, die über das Lager hinwegdonnern, Kameraden, die angegriffen werden oder nur knapp einem Bombenanschlag entgehen -, diese Hinweise sind jedoch neben Pauls Naturbeschreibungen fast nebensächlich und spielen zumindest in seiner Wahrnehmung kaum eine Rolle.
Neben den Tagebucheinträgen gibt es eine Art Rahmenhandlung, kurze Berichte aus der „Heimat“ von Pauls (Ex-)Freundin sowie eine Vorausdeutung über Pauls Lehrerin, die sein Tagebuch erhält, sortiert und liest. Verbunden werden diese verschiedenen Text-Elemente durch ihre stets lakonische Sprache selbst dann, wenn Schicksalsschläge, Gefahren und unerwartete Wendungen beschrieben werden. Gerade diese sachliche und emotionslose Sprache ist es, die den Gegensatz Krieg / Natur noch stärker hervortreten lassen, da beide völlig gleichberechtigt nebeneinander stehen, obwohl ihre Einflussmöglichkeiten auf das Leben der Figuren völlig unterschiedliche sind.
Norbert Scheuer lebt in der Eifel und verortet seine Romane meist auch dort. Seine Bücher wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem stand sein Roman Überm Rauschen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2009. Die Sprache der Vögel stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015.