Stellt euch vor, es ist Wahl und keiner geht hin. Ganz so ist es in José Saramagos Nachfolgerroman zu „Die Stadt der Blinden„, in der fast die gesamte Bevölkerung einer Stadt von einer „weißen Blindheit“ heimgesucht wird, nicht, aber die Richtung stimmt schon mal.
Wählen, dass man nicht wählen möchte
„Die Stadt der Sehenden“ spielt in der gleichen Stadt wie der Vorgängerroman; sogar eine der Figuren taucht hier wieder auf. Die Bürger dieser namenlosen Stadt gehen tatsächlich schon zur (Kommunal-)Wahl; allerdings entscheidet sich die Mehrheit, ihrem Empfinden von Alternativlosigkeit Ausdruck zu verleihen, indem sie leere – weiße – Wahlzettel abgibt. Offensichtlich haben sich die Bürger unabhängig voneinander zu diesem Handeln entschieden – einen irgendwie gearteten Aufruf gab es nicht. Die Regierung ist natürlich entrüstet, aber immerhin wohlwollend, und so wird der Gerechtigkeit genüge getan, indem ein zweiter Wahltermin angesetzt wird, damit die Wähler sich wie ordentliche Bürger verhalten und doch noch eine Stimme abgeben können.
Die Rechnung geht jedoch nicht auf: Die Zahl der „Weißwähler“ nimmt noch zu, fast 90% der Bürger geben einen leeren Stimmzettel ab – und so sieht sich die Regierung gezwungen, auch die zweite Wahl nicht anzuerkennen und somit im Amt zu bleiben. Um jedoch in einem möglichen dritten Versuch nicht vollends vor den Kopf gestoßen zu werden, verhängen die Minister den Ausnahmezustand und drohen an, als nächstes den Belagerungszustand auszurufen, wenn nicht bald Vernunft angenommen wird.
Willkür im Namen der Demokratie
Was folgt, sind klare Anzeichen einer Diktatur: Die Stadt wird abgeriegelt, jeder wird verdächtigt, weiß gewählt und andere dazu angestiftet zu haben. Schließlich sieht die Regierung nur ein letztes Mittel, um zu demonstrieren, dass man ohne sie nicht auskommt. Sie zieht sich und mit ihr die Polizei eines Nachts aus der Stadt zurück. Doch das erwartete Chaos bleibt aus. Stattdessen arrangieren sich Wähler und Nicht-Wähler in der abgeriegelten Stadt und schaffen es, friedlich ohne Staatsapparat miteinander zu leben.
Der 2010 verstorbene Literaturnobelpreisträger José Saramago entwirft in „Die Stadt der Sehenden“ eine Utopie, der ein Glaube an das Gute im Menschen zu Grunde liegt. Keine Wildwest-Gesellschaft folgt dem Abzug der Regierung, sondern ein auf freiem Willen basierendes Miteinander. Hierin ist ein klarer Gegententwurf zum Vorgänger „Die Stadt der Blinden“ zu erkennen: Während dort die sich selbst überlassenen Menschen letztlich in eine darwinistische „Fressen-oder-gefressen-werden“-Gesellschaft fallen, siegen hier Vernunft, Zivilisation und Menschenliebe. Ob das allerdings auf Dauer so möglich ist – daran zweifelt letzten Endes auch das Buch.
Infos zum Buch
Die Stadt der Sehenden (Ensaio sobre a lucidez)
José Saramago
384 Seiten
Erstausgabe 2004
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