Dass Schriftsteller in ihren Romanen gerne Kollegen zum Leben erwecken, ist nichts Neues. Ein Buch über einen Schriftsteller, der ein Buch über einen Schriftsteller schreibt, fügt diesem klassischen Muster noch eine weitere Dimension hinzu. Doch nicht nur in dieser Hinsicht ist Joël Dickers Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert absolut ungewöhnlich, denn selten habe ich einen so vielschichtigen Page-Turner gelesen wie den über 700 Seiten starken Wälzer des nicht mal 30jährigen Schweizer Autors.
Dickers Hauptfigur Marcus Goldman ist ebenfalls ein junger Schriftsteller, dem der Erfolg des ersten Romans nicht nur eine Beziehung zu einem amerikanischen Starlet, einen coolen Agenten und eine schicke Wohnung in New York eingebracht hat, sondern auch eine ernstzunehmende Schaffenskrise. Besonders übel ist die Schreibblockade, unter der Goldman leidet, weil sein Verleger Roy Barnaski darauf besteht, dass das Nachwuchs-Talent das vertraglich zugesicherte zweite Buch innerhalb weniger Monate liefert. Doch Marcus hat nicht nur noch nicht angefangen, ihm fehlt es sogar an einer Idee für den erwarteten nächsten Bestseller. Als er nicht weiß, wie er wieder in den Schaffensfluss kommen soll, den er noch von seinem ersten Roman kennt, erinnert er sich an die Wurzeln seiner schriftstellerischen Tätigkeit, an seine Zeit an der Uni und an seinen Professor, Mentor und Freund Harry Quebert.
Quebert, selbst ein angesehener Autor, hat den jungen, erfolgreichen Schriftsteller nicht mehr zu Gesicht oder ans Telefon bekommen, seit dieser eben nicht mehr nur jung, sondern auch erfolgreich ist. Harry trägt dem jüngeren Mann jedoch nichts nach, sondern lädt ihn zu sich in sein Haus in die kleine Küstenstadt Aurora ein. In der ländlichen Idylle erholt sich Marcus zwar, doch eine Idee für seinen Roman findet er auch bei Harry nicht. Stattdessen erfährt er ein Geheimnis aus Harrys Vergangenheit: Vor 33 Jahren hatte der Schriftsteller eine heimliche Beziehung zu einem 15jährigen Mädchen aus Aurora, und das, obwohl er selbst zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte 30 war. Für Harry war dieses Mädchen – Nola Kellergan – die Liebe seines Lebens, und dass sie eines Tages spurlos verschwand, konnte er nie verwinden. Doch die Gefühle, die er vor mehr als drei Jahrzehnten für Nola hatte, haben für Harry unverändert Bedeutung.
Alle, die sich an Nola erinnern, werden sagen, dass sie ein tolles Mädchen war. Eine von denen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen: sanft und aufmerksam, vielseitig und strahlend.
Postmoderner Kriminalroman
Kurze Zeit nach diesem leider erfolglosen Ausflug in die Vergangenheit erfährt Marcus in den Nachrichten, dass sein Mentor verhaftet wurde. Auf seinem Grundstück wurde ein Skelett gefunden, das als das von Nola Kellergan identifiziert wird. Harry gerät sofort in Verdacht, denn außer dem Fundort der Leiche bringt auch noch eine Mappe, die bei ihr gefunden wird, Harry mit dem Fall in Verbindung: Nora trug das Manuskript von Harrys großem literarischen Erfolg „Der Ursprung des Übels“ bei sich. Marcus reist sofort zurück, weil er von Harrys Unschuld überzeugt ist und ihm beistehen möchte. Doch auch der junge Schriftsteller kann nicht verhindern, dass die Presse sich auf den Quebert stürzt, und als die Beziehung zu Nola ans Licht kommt, ist Harrys Ruf restlos ruiniert.
Zunächst zufällig, doch dann mit immer größerem Eifer und Willen, steigt Marcus selbst in die Ermittlungen ein, um die Unschuld seines Freundes zu beweisen. Und schließlich lässt er sich von Verlegern, Agenten und Freunden überzeugen, dass er unbedingt ein Buch über diese skandalösen Ereignisse und ihre Hintergründe schreiben muss. Titel des Buchs: Natürlich Die Wahrheit über den Fall Quebert. Die Wege zu Wahrheit und Buch sind verschlungen und voller überraschender Wendungen und immer vom Druck begleitet, möglichst schnell einen reißerischen Bestseller abzuliefern. Doch Marcus lässt sich nicht von seinem Weg abringen und versucht, seinen Wunsch nach Gerechtigkeit mit den Zielen seines Verlegers in Einklang zu bringen.
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist höchster Lese-Genuss in jeglicher Hinsicht: Voller überraschender Wendungen, postmodern-selbstreferentiell und so spannend, dass man ihn nicht aus der Hand legen möchte, entwickelt der Roman gleich zwei fesselnde Geschichten: die der verbotenen, aber tief empfundenen Liebe zwischen Harry und Nola und die der Schwierigkeiten, die Marcus beim Schreiben seines zweiten Romans hat. Dabei beginnen alle 31 Kapitel des Romans mit kurzen Dialogen zwischen Harry und Marcus, die sich um jeweils eine Schreib-Regel drehen, die der Mentor seinem Schüler mitgibt – und die Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert natürlich selbst erfüllt.
„Wie wird man eigentlich Schriftsteller, Harry?“
„Indem man nie aufgibt. Wissen Sie, Marcus, die Freiheit beziehungsweise das Streben nach Freiheit ist ein ewiger Kampf. Wir leben in einer Gesellschaft aus resignierten Büroangestellten, und um uns aus dieser misslichen Lage zu befreien, müssen wir gleichzeitig gegen uns selbst und gegen die ganze Welt ankämpfen. Wir müssen uns unsere Freiheit jeden Augenblick neu erkämpfen, aber das ist uns nicht wirklich bewusst. Ich jedenfalls werde nie klein beigeben.“
Gerade durch diese Regeln hat Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert noch eine weitere Wirkung, eine, die über die gewöhnliche Wirkung eines gewöhnlichen Buchs hinausgeht: Der Roman beeinflusst seinen Leser, weckt den Wunsch, selbst seine Nische in der Welt zu suchen, und die Bereitschaft, dafür einzutreten.
Der Roman kam bei Publikum und Kritik gleichermaßen gut an. Mehr als eine Million Exemplare wurden weltweit verkauft. Außerdem stand Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert 2012 auf der Shortlist für den Prix Goncourt, gewann den Grand Prix du Roman sowie den Prix Goncourt des Lycéens. Ein solches Ausnahme-Buch, das es schafft, den Leser extrem gut zu unterhalten und ihn gleichzeitig auf ganz vielen verschiedenen Ebenen noch weit über die Lektüre hinaus anzusprechen, hat das und alle erdenkliche Aufmerksamkeit auch mehr als verdient.