Wie war das noch gleich? Noah baute in Gottes Auftrag eine Arche und nahm von jeder Art zwei Tiere mit, um sie vor den nahenden Fluten zu retten. Wirklich von jeder Art? Welcher Mensch, der noch halbwegs bei Trost ist, käme denn zum Beispiel auf die Idee, einen Holzwurm mit auf ein Holzschiff zu nehmen? In Julian Barnes‚ „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ tut das jedenfalls niemand. Also muss der Holzwurm Eigeninitiative zeiten und sich als blinder Passagier auf die Arche schmuggeln. Wenn man schon als ungebetener Gast unterwegs ist, kann man auch gleich erzählen, wie es wirklich war, ganz ohne Blatt vorm Mund. Und so ist das erste Kapitel der etwas anderen Geschichte der Welt ein Reisebericht, den man so nicht in der Bibel finden wird.
Kurzgeschichten auf den Weltmeeren
Nachdem man in der ersten der elf Kurzgeschichten aus „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ unter anderem erfahren hat, warum es keine Einhörner mehr gibt, schippert man weiter durch die Weltgeschichte, landet auf einem Kreuzfahrtschiff, das von Terroristen überfallen wird, flieht vor einem drohenden Atomkrieg auf eine Insel, erfährt die Hintergründe und Entstehungsgeschichte von Gericaults „Floß der Medusa“ und kehrt auch wieder zu den Holzwürmern zurück, die zwar die Arche verschont, dafür aber einen Bischofsstuhl zum Einsturz gebracht haben und dafür vor Gericht gestellt werden. Zwischendurch – im halben Kapitel – verlässt man Schiffe und Weltgeschichte für einen kurzen Augenblick (oder nicht?) und strandet bei der Liebe. Und vielleicht gibt dieses Kapitel am ehesten die Antwort auf die Frage danach, was das eigentlich soll, warum der Mensch sich an seiner eigenen Geschichte „abarbeitet“. Jedenfalls fließen die verschiedenen Fäden der einzelnen Handlungen im halben Kapitel zusammen – und am Ende bleibt die Liebe als verbindendes Element.
Und dabei sage ich nicht, die Liebe mache Sie glücklich – vor allen Dingen sage ich das nicht. Ja, ich neige sogar zu der Ansicht, dass die Liebe Sie unglücklich macht: sei es sofort unglücklich, weil die Unmöglichkeit einer Verbindung Sie martert, oder später unglücklich, wenn der Holzwurm über Jahre still vor sich hin genagt hat und der Bischofsthron zusammenbricht. Aber man kann dieser Meinung sein und trotzdem darauf beharren, dass die Liebe unsere einzige Hoffnung sei.
Diese sehr verschiedenen Kurzgeschichten – und auch der Essay über die Liebe – haben noch eine weitere Grundüberzeugung gemeinsam: die Geschichte der Welt ist keine Sammlung von Tatsachen, sondern eine Aneinanderreihung von Geschichten, von Erzählungen. Und nicht erst seit George Orwell weiß man, dass die Deutungshoheit über die Geschichte in der Gegenwart durchaus hilfreich sein kann. Gericaults Kunstwerk, das eine Schiffskatastrophe in einen Triumph umdeutet, ist der klassische Vorläufer heutiger Photoshop-Korrekturen.
Wozu also Geschichte? Um die Gegenwart zu verstehen. Und, Julian Barnes’ Antwort geht noch einen Schritt weiter: um vielleicht doch auf den Gedanken zu kommen, dass Geschichte mehr ist, als „nur“ Geschichten, dass es einen Plan geben kann, und dass man auch, wenn man den Plan der Vergangenheit nie ganz verstehen wird, durchaus einen für die Zukunft haben kann.
Davon abgesehen ist „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ eine Sammlung von 11 sehr schönen und lesenswerten Kurzgeschichten, wovon die Geschichte „In Klammern“ (das halbe Kapitel) den nachhaltigsten Eindruck bei mir hinterlassen hat.
Infos zum Buch
Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln
(A history of the World in 10 1/2 Chapters)
Julian Barnes
416 Seiten
Erstausgabe 1990
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