Nadja hat sich ihr Leben lang nur um eins gekümmert: ihre Karriere als Balletttänzerin. Ihr Körper hat ihr dazu gedient, zu tanzen, auf der Bühne zu stehen, Bewunderung zu erfahren und auch einiges an wirtschaftlichen Reichtümern anzuhäufen.
Mit ihrem Freund Daniel – einem drogenabhängigen Komponisten – lebt sie in einer großen Altbauwohnung und hat sich ein Leben erarbeitet, von dem viele träumen.
Der Tanz hat aber mittlerweile auch seinen Tribut verlangt. Nadjas Körper hat Verschleißerscheinungen wie der einer 70jährigen. Die Arthrose hat sie dazu gezwungen, mit dem Tanzen aufzuhören. Stattdessen leitet sie nun, mit Mitte 30, Ballett-Schülerinnen an, so zu werden wie sie.
Ihr neues Leben langweilt Nadja. Ihre Beziehung füllt sie nicht aus, ihr neuer Beruf schon gar nicht. Alles, worauf sie ihr Leben ausgerichtet hatte, war der Tanz, den sie nun nicht mehr hat. Daniel hat kein Verständnis für sie und zu Freunden und Bekannten – zu denen auch Gesche, die Erzählerin des Romans zählt – hat sie ohnehin keinen Draht.
Seit dreißig Jahren hält Nadja Diät.
Niemals ein Stück Torte oder eine Scheibe Schweinebraten essen, die auch verdaut werden dürfen, ein Stück Schokolade zum Trost, einen Topf Spaghetti, weil’s draußen kalt ist. Für Nadja ist das nicht schlimm, Nadja kennt das Gefühl von Befriedigung durch Nahrungsaufnahme nicht.
Eine andere Form der Fürsorge
Kurzerhand entschließt sich Nadja, zumindest kurzzeitig zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Sie besucht ihre Mutter zu deren Geburtstag in Leipzig. Dort lebt auch Mario, Nadjas 16jähriger Sohn, den sie der Karriere zuliebe als Jugendliche zurückgelassen hatte. Das Leben von Nadjas Mutter und Sohn unterscheidet sich grundlegend von Nadjas: Die beiden leben in einer Plattenbausiedlung in einfachsten Verhältnissen.
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Fürsorge von Anke StellingErschienen 2017 bei Verbrecher Verlag | Anzeige |
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Doch unerwartet findet Nadja eine Verbindung zu Mario, der genauso besessen vom eigenen Körper ist wie seine Mutter. Mario arbeitet im Fitnessstudio und strebt dort eine Ausbildung an. Rein äußerlich entsprechen die beiden sich gar nicht – Mario groß und stark, Nadja klein und zierlich -, doch ihre Körperfixierung bringt sie einander näher, als es für Mutter und Sohn normal ist. Die beiden beginnen eine Affäre. Unter den Augen der Mutter/Großmutter verlassen sie Marios Kinderzimmer kaum noch, und niemanden interessiert’s. Die Besessenheit, die Nadja zu Höchstleistungen im Sport angetrieben hatte, richtet sich nun auf den Sex mit dem Sohn.
Irritierende Inzest-Geschichte
Fürsorge ist ein von der ersten Seite an verstörender Roman, der einen an die Grenzen dessen treibt, was man sich vorzustellen bereit ist. Dabei ist es natürlich vor allem die ungewöhnliche Konstellation – die Mutter beginnt eine Affäre mit dem Sohn -, die einen immer wieder ins Nachdenken kommen lässt.
Der Roman ist also definitiv kein Buch, das man wirklich gerne liest. Und dennoch gibt es viele Denkanstöße, die einen auch nach dem Lesen nicht loslassen.
Die Sprache von Fürsorge ist dabei teilweise genauso gefühlskalt wie Nadja, wenn es um sie selbst geht. Man hat das Gefühl, der Roman bleibt oberflächlich, was jedoch daran liegt, dass nahezu alles in Körperlichkeit übersetzt wird. Das Innenleben der Figuren spielt nur am Rande eine Rolle. Der Körper als Tempel, Instrument und Lustbringer ist die eigentliche Hauptfigur des Romans.
Ein Streichkonzert, schwerelose Töne – doch für den Geiger bedeuten sie blutige Fingerkuppen, verkürzte Halssehnen, Fehlstellungen der Wirbelsäule. Um bei der Aufnahme dieses Konzertes mitwirken zu dürfen, haben er und seine Lieben ein Leben voller Entbehrungen hinter sich.
Anke Stelling war 2015 mit ihrem Roman Bodentiefe Fenster für den Deutschen Buchpreis nominiert und stand mit dem Roman auf der Hotlist.