2012 schaffte Stephan Thome es mit seinem Roman Fliehkräfte auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Darin erzählt er die Geschichte des Bonner Philosophie-Professors Hartmut Hainbach, der mit Ende 50 feststellt, dass sein Leben deutlich weniger erfolgreich ist, als er gedacht hätte: Seine Frau hat einen Job in Berlin angenommen, seine Tochter lebt in Spanien, und das Job-Angebot, das ein Berliner Verlag ihm anbietet, bringt in ins Grübeln und dazu, sich mit dem Auto auf eine Odyssee in die portugiesische Heimat seiner Frau zu begeben.
Von genau dieser Frau – Maria, eigentlich Maria-Antonia – handelt Gegenspiel, in dem Thome die selbe Geschichte einer Ehe am Wendepunkt aus der entgegengesetzten Perspektive erzählt. Maria lebt bereits seit einem Jahr in Berlin und stellt fest, dass die Hoffnung darauf, ihr persönliches Glück könnte die Schwierigkeiten einer Fernbeziehung abmildern, sich nicht erfüllen wird. Dabei schien das Job-Angebot, das sie angenommen hat, perfekt: In Berlin, wohin sie seit der Geburt ihrer Tochter Philippa und dem Umzug zunächst ins Ruhrgebiet und dann nach Bonn zurück wollte, hat sie eine Stelle als persönliche Assistentin des exzentrischen Regisseurs Falk Merlinger angenommen. Die beiden verbindet eine gemeinsame Vergangenheit: Mit Falk war Maria liiert, als sie Hartmut kennenlernte. Dass sie Hartmut nun umgekehrt für Falk – und sei es auch nur für einen Job – allein in Bonn zurück lässt, stößt natürlich nicht auf großes Verständnis. Aber Maria ist ohnehin an einem Punkt angelangt, an dem sie sich nicht mehr sicher ist, ob die Arbeit am Theater ihr Leben wirklich um so vieles besser macht wie sie sich das erhofft hatte. Die Abende sind einsam, Falk wie immer schwierig und Telefonate und SMS können eben kein „richtiges“ Ehe-Leben ersetzen. In der Reflektion ihrer aktuellen Situation spürt Maria den Ursprüngen nach, erinnert sich an ihre Jugend und die ersten Ehe-Jahre und versucht, herauszufinden, weswegen sie mit Ende 40 nicht mehr sagen kann, ob sie das richtige Leben geführt hat.
Spiel und Gegenspiel: Im Leben ist alles Reaktion
In Rückblenden erfährt man die Geschichte von Maria-Antonia, die mit einem jüngeren – und der Erinnerung der Eltern an einen verstorbenen älteren Bruder, dessen Namen Antonio sie selbst fortführt – zur Zeit der Nelkenrevolution in Lissabon aufwächst. Die katholischen Eltern geben genaue Regeln vor und machen natürlich starke Unterschiede zwischen ihrem Bruder und ihr, die sich heimlich fürs Ausgehen umzieht und ihren ersten Freund hinhält, während sie den ersten Sex bewusst „mit dem Falschen“ hinter sich bringen will. Schon als Jugendliche ist ihr klar, dass sie nicht in Portugal bleiben will, und die Wahl auf Deutschland fällt schließlich auf Grund der Tatsache, dass dort keine Studiengebühren erhoben werden.
Auch in Berlin, wo es sie hin verschlägt, gerät sie wie zufällig in politische Auseinandersetzungen, schließt sich mit oder wegen Falk einer linken Gruppierung an und wird sogar verhaftet, als sie sich mit ihren neuen Freunden während einer Demonstration in einem Haus verschanzt und Steine auf Polizisten wirft. Auch an Hartmut gerät sie fast zufällig, und immer wieder richtet sie ihr Leben nach den Männern, mit denen sie zusammen ist.
Gegenspiel ist einerseits ein spannendes literarisches Experiment, weil der Roman die Geschichte einer Nebenfigur eines anderen Romans erzählt und damit eindrücklich beweist, wie sehr eine geänderte Perspektive die Beurteilung einer Situation beeinflussen kann. Doch auch ohne den Vorgängerroman gelesen zu haben, kann man diese Geschichte der Portugiesin Maria, die fast wie zufällig die Entscheidungen in ihrem Leben trifft, genießen, denn an etlichen Punkten und in vielen Schwierigkeiten, denen sie begegnet, findet man sich als Leser wieder, und vor allem auch als Leserin. Denn Maria, der in Deutschland der zweite Teil ihres Vornamens einfach verweigert wird, weil es zu aufwendig ist, ihn auszusprechen, ist von Jugend an nicht bereit, zu akzeptieren, dass sie weniger Rechte, weniger Chancen, weniger Möglichkeiten im Leben haben soll, einfach, weil sie eine Frau ist. Dennoch fügt sie sich an vielen Stellen, oft auch aus Schuldbewusstsein, wie man im Laufe des Romans erkennt. Folge ist eine lebenslange Depression, die nach der Geburt der Tochter ihren Höhepunkt erreicht, jedoch nie ganz abklingt.
Stephan Thome hat mit Gegenspiel einen sehr nahbaren Roman geschrieben, der einen in der Ausprägung einzigartigen, in Ursache und Wirkung aber vermutliche typischen Lebensweg einer Frau beschreibt, die nicht bereit ist, Kompromisse bei der Suche nach dem Glück einzugehen – und es dennoch ständig tut. Gerade dass Maria selbst nicht aus Deutschland, sondern aus Portugal kommt, schärft ihren Blick für die Eigenheiten, die dörfliche Borniertheit in ihrem ersten Haus im Ruhrgebiet, der sie nur durch den Umzug nach Bonn entkommt.
Die unglaublich treffenden Einblicke in Marias Innenleben, die absolut nachvollziehbaren Empfindungen, die Darstellung der Zerrissenheit zwischen Beruf und Familie machen den Roman zu einem äußerst lesenswerten Psychogramm einer Frau in mittleren Jahren unserer Zeit, das völlig gleichberechtigt neben dem „männlichen“ Pendant Fliehkräfte steht.