Nicht immer ist alles im eigentlichen Sinne existent, was unser Leben beeinflusst. Manchmal sind es im wahrsten Sinne des Wortes „Geister“, die einen heimsuchen und ein Leben lang nicht loslassen. Wie in Thomas von Steinaeckers Roman „Geister“.
Leben mit der verschwundenen Schwester
Jürgen hat seine Schwester nie kennengelernt, und doch verbringt er sein ganzes Leben in ihrem Schatten. Ulrike verschwand als sie sechs war, vor Jürgens Geburt. Sie war eins der Kinder, von denen man in den Nachrichten hört: Wahrscheinlich wurde sie entführt, möglicherweise ermordet. Es wurde nie aufgeklärt, was passiert ist, und so dreht sich das Leben von Jürgens Eltern um die Suche nach Ulrike oder zumindest nach einer Antwort. Selbst, nachdem Jürgen geboren ist, läuft das Familienleben so ab, als ob es zwei Kinder gäbe. Das Kind, das fehlt, nimmt dabei mehr raum ein als das Kind, das da ist. Ulrikes Geburtstage werden gefeiert, und es werden alle Wege beschritten, um einen möglichen Täter vor Gericht zu bringen. Aus purer Verzweiflung willigen die Eltern auch ein, einen Film über die Familie und ihren Umgang mit Ulrikes Verschwinden drehen zu lassen. Und auch für Jürgen, der kein anderes Leben kennt, ist die verschwundene Schwester mehr als nur ein Geist. Im Tagebuch kommuniziert er mit ihr, und in seiner Phantasie malt er sich die verschiedensten Variationen für ihr Leben aus, immer glücklich, immer mit einer logischen Erklärung für ihr Verschwinden.
Die Geister der Vergangenheit
Jahre vergehen, und es scheint, dass Jürgen doch noch Abstand von der alles prägenden Familiensituation gewonnen hat. Dennoch haben die Geister, die als Kind sein Leben prägten, immer wieder Einfluss auf ihn: Sei es im Familienleben mit Frau und Tochter, oder nachdem die beiden ihn verlassen haben und er alleine klarkommen muss. Immer wieder kehren Jürgens Gedanken zurück zur verschwundenen Schwester, so als ob alles, was in seinem Leben falsch gelaufen ist, „geheilt“ werden könnte, wenn er sie nur finden würde. Immer wieder dreht sich für Jürgen alles um Ulrike: Er fährt nach Budapest, um dort einer Spur nachzugehen, und wird von der Zeichnerin Cordula kontaktiert, die sich eine eigene Version von Ulrikes Leben erdacht und zu einem Comic verarbeitet hat. Diese Begegnung ist prägend für Jürgen: Cordula macht auch ihn zu einer Figur des Comics, und bald gefällt Jürgen diese Welt viel besser als sein wirkliches Leben.
Neben der Beschreibung von Jürgens Leben, das immer unter dem Einfluss der nie gekannten Schwester steht, spielt der Roman auch mit der Form des Comics. Cordulas Zeichnungen sind zum Teil im Buch enthalten und setzen die Geschichte fort oder zeigen Jürgens Vorstellungswelt, so dass Realität und Fiktion zum Teil verschwimmen. Und so ist „Geister“ von Thomas von Steinaecker ungewöhnliches Buch, dass sich zudem mit der Frage der Trauer um einen vielleicht doch nicht verlorenen Menschen beschäftigt.
Infos zum Buch
Geister
Thomas von Steinaecker
208 Seiten
Erstausgabe 2008
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