Hagard von Lukas Bärfuss

Es passiert nicht viel in Hagard, und doch eine ganze Menge. Philip ist um die 60 und verdient sein Geld mit dem An- und Verkauf von Immobilien. Im Café versetzt ihn ein potenzieller Kunde. Da er etwas Zeit überbrücken muss, beobachtet er die Menschen in seiner namenlosen Heimatstadt. Eine Frau, die er nur von weitem und von hinten sieht, löst etwas in ihm aus. Er ist ganz angetan von dieser Unbekannten (und vor allem ihren pflaumenblauen Ballerinas) und folgt ihr schließlich.

Was als harmloses Spiel beginnt, wird in kürzester Zeit – der gesamte Roman deckt nicht mehr als zwei Tage ab – zur Obsession. Philip folgt der Dame auf alltäglichen Gängen, die er zu etwas Mysteriösem verklärt. Währenddessen denkt er über seine Stadt, seine Mitmenschen und seine Rolle unter ihnen nach.

Die irrationale Fixierung auf die Unbekannte zeugt gleichermaßen davon, dass Philip einerseits bereit ist, auch die wenigen dünnen Fäden, die ihn noch mit der Gesellschaft verbinden, zu durchtrennen, er auf der anderen Seite aber dringend einen Anschluss, eine Form der Zugehörigkeit sucht.

Ich weiß alles, und ich begreife nichts.

Hagard: Von der Welt losgelöstes Individuum

Hagard schildert einerseits den rasanten Abstieg eines Mannes, der sich von seinem geregelten Tagesablauf löst und einem Impuls folgt. Eingebettet ist diese Geschichte in sehr genaue Beobachtungen unserer Zeit. Die tatsächliche Abhängigkeit von Smartphones, ohne die man nicht mal mehr weiß, wo man sich befindet, und noch mehr von Ladegeräten thematisiert dieses Buch genau so wie den perfekten Nährboden für Populisten: die diffuse Erwartung, dass alles irgendwie schlimm enden wird.

Allerdings begannen sich auch in meiner Stadt die Verhältnisse zu ändern. Es war kein sichtbarer Umbruch, äußerlich blieb alles beim Alten, aber ein Zweifel schlich sich in das Bewusstsein der Menschen. Die Zuversicht war verschwunden, das Vertrauen auf den morgigen Tag mit seinen Möglichkeiten, die Überzeugung, am eigenen Schicksal schmieden zu können, den nächsten Schritt zu machen auf dem Weg der Vervollkommnung, das alles hatte Risse bekommen.

Lukas Bärfuss liefert damit in seinen Beobachtungen gleich den Grund für die Übertretung, die Philip begeht. Eine wirkliche Veränderung des eigenen Lebens und der Gesamtkonstellation, in der wir leben, ist nur möglich, indem man die oft selbst gesetzten Grenzen überschreitet. Philip tut dies mit vollem Risiko, wenn auch nicht ganz bewusst.

Und abgesehen davon braucht jede Begegnung eine erste Missachtung der Linie, die der Anstand um jeden Menschen zieht. Wer nur küsst, nachdem er dazu aufgefordert wurde, und wer nur geküsst wird, nachdem er sein Einverständnis gegeben hat, der wird niemals küssen und niemals geküsst werden.

Reflektierter Roman über unsere Zeit

Hagard ist ein sehr reflektiertes Buch. Es denkt über sich selbst, seine Figuren und die Beziehung zwischen Roman und Autor offen nach. Und hinter alldem steht die Frage, wie man im eigenen Mikrokosmos leben kann, während um einen herum die Welt zu Grunde geht. Philips Antwort lautet: indem man die Welt loslässt.

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Hagard von Lukas Bärfuss Erschienen 2017 bei Wallstein Verlag 174 Seiten, 19,90 Euro Bei Amazon bestellen           Bei Thalia bestellen

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Insgesamt ist Hagard sowohl inhaltlich als auch sprachlich faszinierend. Beim Lesen hat man immer wieder Momente des Wiedererkennens. Dies passiert immer dann, wenn Bärfuss wieder einmal eine so oft erlebte und selten reflektierte Situation sprachlich genauestens auf den Punkt bringt.

Hagard ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 nominiert.