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Handbuch für Zeitreisende (Charles Yu)

von Yvonne

Die meisten Leute, die ich  kenne, leben vorwärts und schauen dabei ständig zurück.

Handbuch für Zeitreisende

Cover „Handbuch für Zeitreisende“

Der Urheber dieses Zitats kennt sich aus mit Menschen, die nicht im Hier und Jetzt leben: Charles Yu, Autor und Protagonist des „Handbuch für Zeitreisende“ repariert seit zehn Jahren beruflich Zeitmaschinen. Dabei gibt es eigentlich nicht viel zu reparieren; meistens wird er gerufen, weil die Kunden, die sich eine Zeitmaschine gemietet haben (genau, wer will sich so ein Ding schon kaufen?), einfach nicht richtig damit umgehen können. Denn im Grunde mietet man die Maschine nur zu einem Zweck: Um zum schmerzhaftesten Zeitpunkt seines Lebens zurückzureisen und die eigene Vergangenheit zu ändern. Nur leider funktioniert das nicht, und Yus Aufgabe besteht meist darin, den Kunden seines Arbeitgebers begreiflich zu machen, dass man nicht im Nachhinein ändern kann, was einmal geschehen ist.

Sein Job bringt es mit sich, dass Yu in seiner Dienst-Zeitmaschine wohnen darf. Davon macht er ausgiebig Gebrauch, denn zur „realen“ Welt (bzw. dem Science Fiction-Universum, in dem die Zentrale seines Arbeitgebers sich befindet) hat er keinerlei Bezug. Sein Vater, der selbst die Idee zu einer Zeitmaschine hatte, als alle Welt ihn noch für verrückt hielt, ist schon lange verschwunden, und Yus Mutter hat sich für zehn Jahre in einer Zeitschleife eingemietet, in der sie die immer wieder gleichen sechzig Minuten mit einem jüngeren Hologramm ihres Sohns erlebt. Weil es also keinen Grund gibt, sich der Realität zu stellen, fährt Yu abends, nach getaner Arbeit, in eine kleine Sackgasse der Zeit, ins „Atemporale Präsens“, in dem er abwarten und seinen Gedanken nachhängen kann.

 


Leben im Atemporalen Präsens

Denn auch Yu macht das, was er bei den Kunden, denen er hilft, beobachtet: Er kehrt immer wieder zu seinen schmerzhaftesten Momenten zurück – und erinnert sich an seine Kindheit, in der er versucht hat eine Beziehung zu seinem Vater aufzubauen, was ihm jedoch nur in seltenen Ausnahmen gelang. Meist war der Vater zu sehr damit beschäftigt, seine beruflichen Misserfolge in der Firma wenigstens ein wenig zu kompensieren, indem er an seiner Erfindung einer Zeitmaschine tüftelte. Und offensichtlich war dies der einzige Weg für den Sohn, überhaupt eine Verbindung zum Vater aufzunehmen, so dass der junge Charles Yu mehr Zeit in der Garage als auf dem Baseball-Feld verbracht hat.

Yus einzige Freunde sind die depressive Zeitmaschinen-Software Tammy, in die er heimlich verliebt ist, und ein Hund, der eigentlich gar nicht existiert, weil er aus einem Parallel-Universum „herausgeschrieben“ wurde. Auch Yus Chef Phil ist eine Software – nur dass Phil das nicht weiß und immer wieder vorschlägt, mal gemeinsam ein Bier trinken zu gehen. Außerdem erinnert er Yu daran, dass seine Zeitmaschine mal gewartet werden müsste, was zu einer ganzen Kette an unvorhergesehenen Ereignissen führt. Denn als Yu seine Maschine abholen möchte, steigt er selbst – also ein zukünftiges Ich – gerade aus, und in seiner Panik schießt er dieser älteren Version von sich in den Bauch, was man schon im ersten Satz des „Handbuch für Zeitreisende“ lesen kann. Allerdings fällt der Schuss erst, nachdem er sich selbst ein Buch gegeben hat. Dieses Buch, das ebenfalls „Handbuch für Zeitreisende“ heißt, wurde von Charles Yu geschrieben, und zusätzlich zur Suche nach seinem Vater muss Yu nun herausfinden, wie er aus der Zeitschleife, in der er sich offensichtlich befindet und in der er sich selbst immer wieder ein Buch überreichen muss, wieder herausfinden kann.

 

Familiengeschichte vor Science Fiction-Hintergrund

„Handbuch für Zeitreisende“ ist keine Raumfahrer- oder Sternenkrieg-Science-Fiction, sondern vielmehr eine Familiengeschichte vor einem sehr detailverliebten Science Fiction-Hintergrund voller innovativer Ideen. Zeitreisen sind zum einen natürlich das Thema und auch der Beruf der Hauptfigur, aber sie werden auch immer wieder als Metapher dafür genutzt, dass man sein Leben vor sich herschiebt. Erwähnenswert ist die Struktur des Romans, der sich in drei verschiedene Stränge gliedert. Zum einen erfährt man viel über Yus Vergangenheit und seine Kindheit. Dann begleitet man ihn natürlich bei dem Versuch, aus seiner aktuellen Misere zu entkommen. Dazwischen finden sich immer wieder Auszüge aus dem „Handbuch für Zeitreisende“, die mit wissenschaftlichem Vokabular den Eindruck eines tatsächlichen Handbuchs vermitteln. Im Grunde zerfällt der Roman damit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die durch das Handbuch symbolisiert wird.

Darüber hinaus strotzt der Text geradezu von Selbstreferentialität: die Hauptfigur heißt wie der Autor, das Buch spielt in sich selbst eine Rolle und wird von Charles Yu geschrieben und wieder umgeschrieben. Der englische Titel „How to Live Safely in a Science Fictional Universe“ zeigt außerdem, dass es um mehr als „nur“ Zeitreisen geht: Paralleluniversen, Science Fiction als Unterhaltungsindustrie, Unternehmen als „Besitzer“ ganzer Universen und künstliche Intelligenz – all das sind Themen, die noch „nebenbei“ behandelt werden.

Charles Yu (der echte) landete mit seinem Debütroman „Handbuch für Zeitreisende“ gleich einen Erfolg: Er wurde vom Center for the Study of Science Fiction der University of Kansas als zweitbester Science Fiction-Roman des Jahres 2010 ausgezeichnet. Mittlerweile hat Yu zwei weitere Bücher, beides Kurzgeschichtensammlungen, veröffentlicht, die jedoch bisher nicht auf Deutsch erschienen sind.

Infos zum Buch

Handbuch für Zeitreisende
(How to Live Safely in a
Science Fictional Universe)

Charles Yu
272 Seiten
Erstausgabe 2012


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