Gleich zwei Mal gibt es Feuer auf den ersten Seiten von Jim Craces Roman „Harvest“, und keins davon bedeutet etwas Gutes. Das erste Feuer kündigt drei Neuankömmlinge an. In dem Dorf, das namenlos für jedes stehen kann, gab es das zuletzt vor zwölf Jahren, als der neue Landherr Kent mit seinem Diener Walter Thirsk das Herrenhaus bezog. Nach so einer langen Zeit zeugt das Feuer davon, dass diese Fremden wissen, welches Recht ihnen zusteht: Errichten sie eine Hütte am Dorfrand und entzünden ein Willkommensfeuer, bevor sie jemand davon abhält, so haben sie das Recht zu bleiben. Walter, aus dessen Sicht „Harvest“ erzählt ist und der schon längst nicht mehr im Herrenhaus lebt, sondern versucht, zur Dorfgemeinschaft zu gehören, ist einer der ersten, die das Feuer sehen. Es ist der letzte Tag der Ernte, von der die gesamte Dorfgemeinschaft abhängt, so dass ohnehin niemand Zeit hat, sich um die Fremden zu kümmern. Das ändert sich jedoch mit dem zweiten Feuer, das kein Begrüßungsfeuer, sondern außer Kontrolle geratene Brandstiftung ist. Kents Taubenställe stehen in Flammen, und zumindest dem Dorf ist klar, dass dies Jugendliche aus ihren Reihen waren. Doch die beiden am gleichen Tag brennenden Feuer bieten auch die Möglichkeit, zwei Probleme auf einmal zu lösen. Zwar springt niemand auf und zeigt mit den Fingern auf den Dorfrand, doch die Anschuldigen sind auch alles andere als subtil: Wer außer Fremden würde so ein Feuer legen?
Harvest: Zwischen Opportunismus und Feigheit
Eine Delegation aus dem Dorf bricht zur Hütte der Fremden auf. Es sind drei Menschen, die dort wohnen, eine Frau und zwei sehr unterschiedlich alte Männer, wahrscheinlich ein Vater mit Sohn und Tochter. Diese drei sind sehr überrascht über die ihnen entgegengebrachte Feindseligkeit und setzen sich mit Stolz und Unverständnis dem zur Wehr. Die Situation eskaliert auf der Stelle, weil vor allem die Jugendlichen, die das Feuer selbst gelegt haben, provozieren und klar machen wollen, warum sie gekommen sind. Kent, der ein Beispiel setzen muss, bestraft die beiden Männer auch sofort: Ihr Kopf wird auf der Stelle rasiert und sie werden zu sieben Tagen am Dorfpranger verurteilt. Auch die Frau wird geschoren, als sie kundtut, was sie von dieser Bestrafung hält. Und obwohl jeder im Dorf weiß, dass hier Unschuldige bestraft werden, meldet sich nieman zu Wort, denn schließlich hofft man, nach den sieben Tagen die ganze Geschichte einfach vergessen zu können.
Es gibt schließlich auch noch andere Dinge, um die man sich im Dorf Sorgen machen muss. Die Ernte war nur mäßig dieses Jahr, und Kent hat einen Landvermesser einbestellt, der nicht nur für die Dorfbewohner unverständliche Pläne von Feldern, Hütten und das Dorf umgebendem Marschland zeichnet, sondern die Bewohner auch gleich wie zu verkaufendes Vieh zählt. Tatsächlich erfährt Walter als alter Vertrauter von Kent etwas, das er niemandem im Dorf weitergeben soll: Das Land gehört seit dem Tod seiner Frau nicht mehr Kent, sondern deren Cousin, der sein Erbe von Gerstenanbau auf Schafzucht umstellen will, was für die Dorfbewohner den Verlust ihrer Existenzgrundlage bedeutet. Als der Cousin schließlich eintrifft, um selbst sein Land in Augenschein zu nehmen, verschlimmert sich die Situation sowohl im Dorf als auch der Fremden, denn der neue Landsherr möchte sofort zeigen, wer nun das Sagen hat.
Ausgrenzung und Fremdenhass werden in „Harvest“ auf Opportunismus, Geiz und Feigheit zurückgeführt. Einfacher, als sich selbst zu einer Dummheit zu bekennen oder den Sohn eines Nachbarn einer Strafe auszusetzen, ist es, jemanden, den man nicht mal nach dem Namen fragt für die eigenen Taten büßen zu lassen. Der Roman ist dabei so sachlich-distanziert erzählt, dass die Strafen für die unschuldigen Besucher um so schlimmer wirken, weil man ohnehin von Anfang an ahnt, wie das Ganze enden wird. Eine beklemmende und dadurch fesselnde Geschichte über die Funktionsweise von Gesellschaften, über Etablierte und Außenseiter und über den fehlenden Mut, das Richtige zu tun. Beim Lesen musste ich oft an Lars von Triers „Dogville“ denken, wenn auch von Triers Vision einer Dorfgemeinschaft noch um einiges düsterer ist.
„Harvest“ steht auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2013.
Infos zum Buch
Harvest
Jim Crace
272 Seiten
Erstausgabe 2013
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