1967 in Kalkutta: Familie Ghosh, deren Oberhaupt mehrere Papiermühlen besitzt und damit zu einigem Wohlstand gekommen ist, bewohnt ein vierstöckiges Haus im Norden, dem besseren Teil der Stadt. Die Stockwerke des Hauses symbolisieren das Leben, wie es in Indien von den meisten akzeptiert wird: Hierarchich geführt, selbst in der Familie ungleich geteilt, lebt jeder das Leben, das ihm laut seinem Stand zusteht. Die ungeliebte Witwe des jüngsten Sohns der Familie lebt wie eine Bedienstete mit ihren beiden Kindern in einem Zimmer auf der untersten Etage, während sie darauf hofft, von im doppelten Wortsinn oben Essensresse zu erhalten. Die Frau des zweitältesten Sohns achtet peinlich genau darauf, dass ihr Mann nicht übervorteilt wird, und die Mutter der Familie regiert mit eiserner Hand über ihre Söhne und ihre nicht immer standesgemäßen Frauen.
Auch die dritte Generation des Hauses, das mit Bediensteten immerhin mehr als 20 Personen umfasst, wächst langsam heran, und der älteste Enkel Supratik befasst sich im Studium erstmals mit dem in Indien aufkommenden Kommunismus, engagiert sich politisch und setzt sich für die Rechte der Arbeiter und Unterprivilegierten ein – vor allem für die derjenigen, die er nicht persönlich kennt. In Briefen, die neben der Schilderungen aus dem Haus der Familie Ghosh einen weiteren Handlungsstrang ausmachen, erzählt er von seiner kommunistischen Einstellung, der Konfrontation mit politischem Opportunismus und dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten, den er mit ein paar Gleichgesinnten aufnimmt.
In anderen Herzen: Identitätsfindung als Abgrenzung zu anderen
In anderen Herzen ist ein Roman über eine ungleiche Gesellschaft, die die Akzeptanz dieser Ungleichheit erst in einem Generationenkonflikt aufgibt. Neel Mukherjee stellt dabei mit gleicher Nähe die Motivation aller Beteiligten dar, sei es der sich ungerecht behandelt fühlenden Schwiegertochter, die sich mit der Frau des ältesten Sohns vergleicht, der Mutter, die Sorge trägt, dass die Aufgabe der kastengerechten Behandlung ihrer Haushaltsmitglieder, wie sie ihr durch ihre eigene Mutter übergeben wurde und die sie in ältester indischer Tradition erfüllt, nicht in Vergessenheit gerät, oder der revolutionär handelnde und denkende Enkel: Jeder der zugegebenermaßen sehr vielen Akteure wird für den Leser absolut nachvollziehbar, selbst wenn er nicht das Potenzial als Identifikationfigur besetzt.
Schon im Prolog, der einen nicht nur in den Bann zieht, sondern schockiert und verstört, spielt Nahrung als Symbol für Armut oder Wohlstand eine Rolle: Während drei Jahre lang der Monsun ausbleibt und die Ernten mager ausfallen, die Armen hungern, führen die Wohlhabenden ein weitestgehend gleich bleibendes Leben, das sich lediglich dadurch ein wenig ändert, dass es mehr Bettler gibt, die es wegzuscheuchen gilt. Gefangen in einer Kultur, in der es als gottgegeben betrachtet wird, dass man andere Ansprüche hat als die Mitmenschen, hinterfragen weder Arme noch Reiche ihren Stand. Einzig Supratik und seine kommunistischen Freunde wagen es, sich eine andere, gerechtere Gesellschaftsordnung zu erträumen, in der einem zusteht, was man braucht, und in der man keine Abgrenzung nach unten benötigt, um sich selbst Identität zu stiften.
The Lives of Others ist faszinierend erzählt und gibt Einblicke in Gesellschaftsstruktur und Geschichte Indiens und erzählt gleichzeitig eine fesselnde Geschichte über die verschiedenen Generationen einer Familie. Der Roman ist für den Man Booker Prize 2014 nominiert und führt die Quoten-Listen der Buchmacher an. Ob diese mit ihrer Einschätzung Recht behalten, dass The Lives of Others klarer Favorit für den Literaturpreis ist, erfahren wir heute Abend.