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Indigo (Clemens J. Setz)

von Yvonne
Indigo

Cover „Indigo“

In einer nur so wenig dystopischen Welt, dass man sie fast für die unsere halten könnte, hat eine Krankheit Einzug gehalten, die die Gesellschaft verändert. Denn nicht die Krankheitsträger leiden an den Symptomen – Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel bis zum Kreislaufkollaps -, sondern jeder, der sich den Betroffenen nähert. Das kann nach zehn Sekunden anfangen, nach fünf Minuten oder auch erst nach einer Stunde, aber irgendwann hält man es in der Nähe des Kranken nicht mehr aus. Besonders schlimm daran ist, dass ausschließlich Kinder am sogenannten Indigo-Syndrom erkranken, was es für die Eltern nahezu unmöglich macht, ihnen ein normales Zuhause zu bieten.

Woher die Krankheit kommt, weiß man nicht, und auch eine Heilung scheint nicht möglich. Immerhin geht das Indigo-Syndrom bei einigen Kindern im Laufe ihrer Jugend zurück. Bei manchen erhöht sich die Zeitspanne, die man in ihrer Nähe verbringen kann, bei anderen hört der Effekt ganz auf – sie „brennen aus“. In jedem Fall aber sind die Kinder durch ihr Aufwachsen mit der Krankheit so geprägt, dass es ihnen stets schwerfällt, anschließend ein halbwegs normales Leben zu führen. Das äußert sich teilweise in Empathielosigkeit und häufig auch im sogenannten „Dingo-Delay“, der mit einem Schimpfwort für Indigo-Kinder benannten Tatsache, dass es Lücken in der Sozialisation und der Allgemeinbildung gibt, die sich bei den Kindern viel später schließen als bei Gleichaltrigen.

 

Auf der Suche nach Antworten

Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz, der mit seinem Autor nicht nur den Namen, sondern auch einige biografische Details teilt, findet keinen Praktikumsplatz nach seinem Studium und wird von seinem Professor an die Helianau vermittelt. Dieses Internat, weit außerhalb in der Steiermark gelegen, hat sich zum Ziel gesetzt, Indigo-Kindern eine Heimat und eine Grundausbildung zu bieten, was in einer normalen Schule nicht möglich ist. Vor allem der Institutsleiter Dr. Rudolph hat Methoden und Systeme entwickelt, die mit ein bisschen Struktur einen Alltag für die Kinder ermöglichen. Schulungen darin, wann man sich entfernen muss und wie viel Abstand man halten muss ergänzen den Unterricht in großen Hörsälen, in denen Lehrer und Schüler den benötigten Platz haben, um sich nicht gegenseitig krank zu machen.

Ein bisschen unheimlich scheinen Setz die Kinder jedoch; und die Rituale, in denen die Jugendlichen bewusst den „sicheren“ Abstand durchbrechen, sind ihm in ihrer Fremdheit ebenfalls suspekt. Besonders seltsam aber sind die Relokationen, von denen jeder außer Setz zu wissen scheint, was es damit auf sich hat. Alles, was er davon mitbekommt, ist jedoch, dass Kinder plötzlich vom Chauffeur weggebracht werden – verkleidet als Clown, Statue oder Schornsteinfeger.

Setz‘ Aufenthalt an der Helianau ist von kurzer Dauer. Er wird nach einer Auseinandersetzung mit dem Institutsleiter hinausgeworfen. Doch die Indigo-Kinder, über die er sich vorher nicht allzu viele Gedanken gemacht hat, lassen ihn nicht mehr los. Er schreibt über sie, recherchiert, besucht betroffene Familien und findet doch keine Antworten, sondern nur noch mehr Fragen.

 

Sprünge zwischen den Zeiten

„Indigo“ ist nicht chronologisch erzählt, sondern springt zwischen der Zeit, in der Setz in der Helianau arbeitet und seine Nachforschungen anstellt, und einem etwa fünfzehn Jahre später liegenden Zeitpunkt, als man in der Zeitung von ihm liest, weil er vom Vorwurf freigesprochen wurde, einen Tierquäler brutal ermordert zu haben. Eingestreut sind (fiktive) Zeitungsausschnitte, Fachliteratur, Rechercheergebnisse aus Setz‘ verschiedenen Sammelmappen sowie etliche Gespräche zwischen dem ausgebrannten Indigo-Erwachsenen Robert und seinen Freunden. Vor allem dieses „Nachher“ des Indigo-Kinds, in dem man die ganze Verwirrung und Wut auf die Welt erlebt, zeigen das ganze Ausmaß der Krankheit. Und gerade das Springen zwischen den Zeiten und der reportagenhafte Aufbau des Romans machen es zusätzlich zur interessanten Story sehr lesenswert.

Auch wenn „Indigo“ auf den ersten Blick nicht den Eindruck macht, dass man es einfach so „weglesen“ kann, ist das Buch ein wahrer Pageturner, da man auf jeden Fall wissen will, was es mit dem Institut, den Relokationen und der ganzen Mannschaft an leicht unheimlichen Figuren auf sich hat. Dabei ist der Roman sprachlich nicht einfach nur ansprechend oder eindrucksvoll, sondern geradezu überwältigend. Jedes der verschiedenen Bruchstücke, die (die Figur) Setz zusammenträgt, wirkt absolut authentisch, und das Buch ist voller ungewöhnlicher und absolut passender Vergleiche.

Zu Recht hat es „Indigo“ auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012 geschafft. Ich jedenfalls drücke die Daumen.

Infos zum Buch

Indigo
Clemens J. Setz
479 Seiten
Erstausgabe 2012


Du magst „Indigo“? Dann gefällt dir vielleicht auch…

  • Unendlicher Spaß / Infinite Jest (David Foster Wallace): Unsere eigene Welt nur um einige dystopische Grad verändert, verschiedene Schauplätze zu verschiedenen Zeiten, in die man selbst Licht bringen muss, ein Internat als Mikrokosmos – in vielen Einzelheiten hat mich „Indigo“ an David Foster Wallaces bekanntesten Roman erinnert.
  • Das Haus. House of Leaves (Mark Z. Danielewski): Auch Danielewski spielt mit Zitaten und Reportageteilen, und dem Rätsel des „House of Leaves“ steht man ähnlich staunend gegenüber wie dem Indigo-Syndrom.

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