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Nochmal und nochmal darf es nicht passieren

von Yvonne

Dystopien sind besonders dann erschreckend – und gut – wenn sie in einer Welt spielen, die der unseren so ähnlich ist, dass man erst auf den zweiten Blick merkt, dass es nicht die unsere ist. Die Welt von Kevern Cohen und Ailinn Solomons ist tatsächlich kaum von der Realität, wie wir sie kennen zu unterscheiden. Er lebt in einem Küstenort – Port Reuben -, der vom Tourismus lebt, und schnitzt und verkauft Souvenirs aus Holz, sie stammt ebenfalls aus einem kleinen Ort am Meer und begleitet eine ältere Freundin in ein nahe gelegenes Tal, und verdient sich ihr Geld ebenfalls mit dem Erstellen von Andenken, filigranen Papier-Blumen, die sie auf dem Markt verkauft.

Doch es gibt auch Unterschiede: Ein bisschen unbedarft wirken die Erwachsenen, die sich an Regeln halten, die nirgends festgeschrieben sind, aber trotz aller Unverbindlichkeit Anerkennung verlangen. Und es gibt ein Ereignis, das – wahrscheinlich – die Weltordnung erschüttert hat, und das nur als „Was passierte, falls es passierte“ bezeichnet wird – die Möglichkeit, dass eigentlich nichts passiert ist immer einschließend. Der gemeinsame Geschmack der Gesellschaft reduziert sich auf schlichte Liebesgeschichten und Balladen, elektronische Kommunikation ist nur innerhalb des eigenen Orts möglich, Gewalt und sofortige Entschuldigung dafür sind allgegenwärtig und Kevern hat von seinem Vater gelernt, bei jedem Wort, das mit J beginnt, zwei Finger schützend über die Lippen zu halten, womit er sich innerhalb der Dorfgemeinschaft noch mehr ausgrenzt als er es auf Grund seines verschlossenen Wesens ohnehin schon ist.

Was da passiert ist – ein zweiter Holocaust, wie sehr schnell aus Andeutungen klar wird -, wurde sanft und doch radikal aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt: Mit der „Operation Ismael“ – benannt nach dem ersten Satz „Nennt mich Ismael“ aus Moby Dick – wurden alle alten Namen abgelegt und neue – manchmal keltische, meist jüdische – angenommen, so dass niemand zwischen Tätern und Opfern, die es in Wahrheit längst nicht mehr gibt, unterscheiden kann. Gegenstände, die älter als 100 Jahre alt sind, darf, nein soll, man nicht haben, Erbstücke auch nicht unbedingt, und die Vergangenheit dient allein dazu, sie zu vergessen. Denn die Maxime Never forget hat offensichtlich nicht funktioniert, sonst wäre es nicht zum zweiten Mal innerhalb von hundert Jahren zu dieser Katastrophe gekommen.

Doch von all dem weiß offiziell niemand etwas, das Leben findet in der Gegenwart statt und das Ziel eines jeden ist romantische Liebe, wobei dies einen sehr rauhen Umgangston in der Sexualität keineswegs ausschließt. Kevern entzieht sich dem weitestgehend, und als er Ailinn vorgestellt wird, scheint er endlich eine Frau gefunden zu haben, die seine Ansichten teilt und für ihn die Richtige sein könnte. Doch die beiden sind zu einzelgängerisch, zu zurückgezogen, als dass sie von der Welt in Ruhe gelassen werden könnten, und ein Mordverdacht, der auf Kevern fällt, ist da erst der Anfang.

Vergessen als Versuch des Umgangs mit Hass: J

Der Roman J handelt einerseits davon, wie sehr eine freiheitsbegrenzende, einengende Gesellschaftsordnung durch gute Intention bedingt wird. Das Greuel, dass man für die Zukunft auf jeden Fall ausschließen möchte, konnte durch Freiheit, Offenheit und Diskurs nicht verhindert werden, so dass nun Unwissenheit und Vergessen proklamiert werden – sicher auch, um sich selbst noch ins Gesicht schauen zu können. Auf der anderen Seite geht J Ursachen für Hass und Abgrenzung nach, und findet diese gerade in Unwissenheit, so dass am Ende dieses düsteren Szenarios – ohne dass es im Roman thematisiert wird – klar ist, dass die Geschichte sich auch ein weiteres Mal wiederholen wird.

Besonders faszinierend und auch verstörend ist die Idee der Namensänderung, die nur noch konsequenter fortsetzt, was nach einem Völkermord, einem Krieg oder Bürgerkrieg ohnehin passiert: dass die Gesellschaft das Leben der Täter in ein völlig dissonantes Vorher und Nachher teilt, so dass diese auch später eine Rolle übernehmen können, die trotz des totalen Widerspruchs zu allem, was sie getan haben, Anerkennung und sogar Notwendigkeit für das Fortbestehen der Gesellschaft finden.

J steht auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2014, den Howard Jacobson bereits 2010 mit Die Finkler-Frage gewann. J ist sein dreizehnter Roman.

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