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Eine Reise, zwei Perspektiven

von Yvonne

Mittlerweile ist es gar nicht mehr so einfach, in die Krim zu fahren. Seit Februar 2014 besteht in der internationalen Gemeinschaft Uneinigkeit darüber, wie der Status der Krim völkerrechtlich einzustufen ist, was eine Einreise logischerweise schwer macht.

Das Schriftsteller-Paar Esther Kinsky und Martin Chalmers reiste kurz vor der Krimkrise auf die Halbinsel am Schwarzen Meer, um literarische, geografische und historische weiße Flecken der jeweiligen Landkarten zu füllen – im Handgepäck ein 150 Jahre alter Reisebericht und der Plan, im Anschluss gemeinsam über die Reise zu schreiben.

Der Besuch in der Krim gestaltet sich tatsächlich wie eine Fahrt in die Vergangenheit – der Kurort Kurortne wirkt fast wie eine Geisterstadt, in der sich verfallene und nie fertig gestellte Gebäude kaum unterscheiden. Marschrutkas heißen die Sammeltaxis, die von Ort zu Ort fahren, durch die Steppe des Ostens und in weitere Betonwüsten und von der einheimischen Fauna beinahe zurückeroberte Orte.

Der vorliegende Reisebericht Karadag Oktober 13 – Aufzeichnungen von der kalten Krim ist eine poetische Auseinandersetzung mit der Fremdheit und dem immer wieder vorsichtigen Versuch des Verständnisses und der Annäherung.

Karadag Oktober 13: Reise in eine fremde Welt

Reiseberichte zu lesen ist ein bisschen wie Kochbücher durchblättern: Das eigentliche Erlebnis lässt sich in Gedanken nicht vorwegnehmen, und man weiß von vornherein, dass man hungrig zurückbleiben wird.

Esther Kinsky war dies ganz sicher bewusst, als Karadag Oktober 13 entstand. Bei dem Buch handelt es sich dann auch nicht um einen gewöhnlichen Reisebericht, sondern um einen poetischen und sprachgewaltigen Einblick in eine Welt, für die man sich bei uns lange nicht interessiert hat und die jetzt wahrscheinlich den meisten auf längere Zeit verschlossen bleiben wird.

Zwischen ihren Berichten und denen ihres kurz nach der Reise verstorbenen Manns Martin Chalmers sind immer wieder Auszüge aus dem Reisebericht des englischen Reiseschriftstellers Laurence Oliphant aus der selben Gegend eingestreut, die rund 150 Jahre vor dieser Reise entstanden.

Eigentlich macht vor allem diese Gegenüberstellung der verschiedenen Texte den Reiz von Karadag Oktober 13 aus. Denn neben dem Einblick in eine Welt, die sich seit Oliphants Besuch erstaunlich wenig verändert zu haben scheint, bildet das Buch auch ein sprachliches Experiment. Kinsky und Chalmers schildern jeweils des selben Tag, und es ist jedes Mal aufs Neue erstaunlich, wie sehr sich die Berichte unterscheiden, obwohl sie doch dasselbe berichten.

In Summe ist Karadag Oktober 13 ein gänzlich ungewöhnlicher Reisebericht, sowohl hinsichtlich des beschriebenen Ziels als auch bezüglich der gewählten Form, und besticht sowohl durch Inhalt als auch durch literarische Qualität.

 

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