Wann immer ich in Berlin bin, was leider viel zu selten ist, gehe ich in eine bestimmte Buchhandlung. Dort suche ich einen bestimmten Tisch auf, auf dem üblicherweise etwa zwanzig bis dreißig verschiedene Titel liegen, und von diesen kaufe ich auf jeden Fall die zwei oder drei, die ich noch nicht habe. Blind. Ich habe damit noch nie falsch gelegen. Und bei meinem letzten Besuch in Berlin – im Januar – habe ich auf diese Weise mit „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ einen Volltreffer gelandet. Den ich euch natürlich nicht vorenthalten will. Und nebenbei gibt’s noch ein praktisches Beispiel dafür, warum man Bücher nicht nach ihrem Einband beurteilen sollte.
Große Geschichte des Ausbrechens
Der Titel und die Gestaltung des Covers lassen es ahnen: Dieser Roman hat was mit Comics zu tun. Doch sind „Kavalier & Clay“ nicht etwa zwei Superhelden mit Cape und engen Anzügen, sondern zwei jüdische Jungs an der Schwelle zum Erwachsensein, die den Kopf voller hochgesteckter Ziele haben und sich gemeinsam daran machen, sie zu erreichen.
Es war ein Verpuppungsprogram – ein Traum legendären Ausbrechens -, das Josef Kavalier letztlich über Asien und den Pazifischen Ozean in das enge Bett seines Cousins auf der Ocean Avenue geführt hatte. (S. 28)
1939 flieht Josef Kavalier aus dem von den Deutschen besetzten Prag in einer abenteuerlichen Reise, bei der auch der Golem eine Rolle spielt, nach New York, wo er bei seiner Tante Ethel Klayman und ihrem Sohn Sammy Unterschlupf findet. Joes Familie hat alles, was sie hatte, verkauft, um wenigstens dem älteren Sohn ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu ermöglichen. Noch in der ersten Nacht, in der Sammy für Joe in seinem Bett Platz machen muss, stellen die beiden einige Gemeinsamkeiten fest, die wichtigste davon die Begeisterung fürs Zeichnen. Sam, der Superman und auch die anderen gerade überall neu erscheinenden Comic-Hefte verschlingt, weiß gleich, was zu tun ist: Zusammen werden sie selbst einen Superman erschaffen und so reich und berühmt werden. Mit voller Begeisterung, absolutem Ernst und dem Glauben an sich selbst erfinden die beiden den „Eskapisten“, den größten Entfesselungskünstler aller Zeiten, der von einem Geheimbund dazu beauftragt wurde, Menschen überall auf der Welt zu befreien.
„Ich möchte nur etwas sagen“, begann er: „Und zwar, dass wir die Leute hiermit umhauen werden. Ich meine, das ist was Gutes, umhauen. Ich kann nicht erklären, warum ich das weiß. Es ist einfach – einfach so ein
Gefühl, das ich schon das ganze Leben lang habe, aber keine Ahnung, als du aufgetaucht bist… wußte ich gleich …“ Er zuckte mit den Schultern und sah zur Seite. (S. 184)
Für Joe ist klar, dass der Eskapist vor allem ganz real seine Familie befreien soll, indem Joe das Geld, das er mit dem Zeichnen verdient, für ihre Flucht einsetzt. Doch obwohl der Eskapist und sein Kampf gegen die „Razis“ millionenfach gelesen werden, ist Joes Ziel nicht so leicht erreichbar wie gedacht: Knebelverträge mit gierigen Verlegern, Bombenanschläge, die erste Liebe bzw. – in Sams Fall – die Frage danach, wen man überhaupt lieben kann, stellen die beiden vor täglich neue Herausforderungen. Und die „unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“, die die beiden tatsächlich erleben, umspannen Kontinente und Jahrzehnte.
Zwischen Fiktion und Realität
Vieles von dem, was Chabon in „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ beschreibt, hat tatsächlich so stattgefunden, und er bettet seine Erzählung ein in die Blütezeit der amerikanischen Comics. So erlangt man nebenher beim Lesen ein sehr detailreiches Bild über das Amerika der 1940er und 1950er Jahre. Vor allem aber liest man eine wunderschöne (und sprachlich immer wieder überraschende und – mich – begeisternde) Geschichte über Freiheit, das Ausbrechen aus den verschiedensten Grenzen und Zwängen, den Glauben an sich selbst und – ganz besonders – Freundschaft.
Die Liebe zum Detail, die immer wieder bei der Beschreibung von Joes Zeichnungen erwähnt wird, findet sich auch
in Michael Chabons Sprache wieder, so dass der Roman auf stolze 816 Seiten kommt. Es hätten auch gerne noch mal so viele sein dürfen.
Wie wunderbar visuell Sprache sein kann, zeigt Chabon in einem Kapitel, dass das erste Abenteuer einer weiblichen Comic-Figur schildert – Luna Motte, die sich von der unscheinbaren Bibliothekarin zur nächtlichen Kämpferin für Gerechtigkeit wandelt und sehr deutlich Joes Freundin, ergänzt um die Fantasien eines 20-Jährigen, nachempfunden ist. Man weiß, hier liest man einen Comic. Ohne Bilder zwar, aber die braucht man nicht, weil man sie ohnehin schon vor Augen hat.
Sie ist eine Art menschlicher Regenschirm, zusammengefaltet, das Bändchen festgezurrt. (S. 348)
Flüche strömen ihnen in Strudeln von Druckerzeichen von den Lippen. (S. 350)
Ein so stark von der Sprache lebendes Buch wie „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ verliert oft bei der Übersetzung, doch hatte ich bei der deutschen Ausgabe nie das Gefühl, das ein Satz im Original vielleicht besser geklungen haben könnte.
Liebeserklärung an Comics
Das Titelbild, dem zugegebenermaßen wirklich nur ein fliegender Superman neben dem Empire State Building fehlt, um als Comic-Cover durchzugehen, ist wie der ganze Roman eine Liebeserklärung an ein Genre, das eine ganze Generation geprägt hat und enormen Einfluss auf die (Pop-)Kultur hatte und hat. Eine Liebeserklärung, die ich gut nachvollziehen kann. Und trotzdem sollte es niemanden abschrecken, der sich zu Comics nicht hingezogen fühlt. Neben der wichtigen Rolle, die diese spielen, ist „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ in erster Linie eine Geschichte über Freundschaft und Vertrauen. Und vor allem ein gutes Buch. Wem mein Wort nicht reicht: Die Jury des Pulitzer-Preises 2001 fand das auch.
Und falls meine Begeisterung in den vielen, vielen Sätzen, die ich hierzu geschrieben habe, noch nicht deutlich genug herausgekommen ist, sage ich es hier noch mal ganz kurz. „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ ist ein fantastisches Buch. Und ein richtig gutes. Und wenn ihr es irgendwo in einer Buchhandlung liegen seht – kauft es. Und lasst euch ein paar Tage oder Wochen lang gefangen nehmen von Kavalier, Clay, dem Eskapisten und ihren unglaublichen Abenteuern.
Infos zum Buch
Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay
(The Amazing Adventures of Kavalier & Clay)
Michael Chabon
816 Seiten
Erstausgabe 2001
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