Er sieht seinen Bruder zum letzten Mal bei einem Besuch in der Heimatstadt, der er schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hat: Der Erzähler in Lukas Bärfuss‘ Roman Koala ist eingeladen worden, um einen Vortrag über Heinrich von Kleist und dessen Selbstmord zu halten. Wie schon früher nimmt er sich auch dieses Mal vor, wieder engeren Kontakt zum Bruder zu suchen, doch zu mehr als einer SMS zum 45. ein paar Monate später reicht es nicht. Bald bleibt auch keine Gelegenheit mehr, den Bruder wieder mehr in das eigene Leben einzubinden, denn der Bruder begeht Selbstmord kurz nach seinem Geburtstag. Alles ist vorbereitet, alles ist aufgeräumt, der Bruder hat alles so eingerichtet, dass er auch nach seinem Tod möglichst niemandem zur Last fällt.
So fährt der Erzähler zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit in seine Heimatstadt zurück, um den Bruder zu beerdigen, um zu verstehen, was passiert ist, was man hätte anders machen müssen und was das mit ihm selbst zu tun hat. Zum ersten Mal seit langem hört er auch wieder den alten Pfadfinder-Spitznamen seines Bruders, ein Tier-Name, den man ihm als Totem mitgegeben hatte und der für den Bruder ebenso enttäuschend wie ernüchternd gewesen sein muss, kann dieses Tier – der Koala – doch maximal durch Niedlichkeit überzeugen, eine Eigenschaft, die bei Jungen im entsprechenden Alter nicht besonders hoch im Kurs steht.
Suche nach Antworten, die niemand hören will
Der Erzähler stellt bald fest, dass der Selbstmord des Bruders nun alles bestimmt, jeden Gedanken, jede Handlung, und der Wunsch nach Antworten bringt ihn dazu, das Gespräch mit anderen Betroffenen zu suchen, die ebenfalls einen nahen oder entfernteren Verwandten durch Selbstmord verloren haben. Doch die Angesprochenen sind befremdet, möchten nicht über das Thema sprechen, und so bleibt der Erzähler mit seinen Fragen und der Suche nach Antworten allein.
Alles, was ihm zur Näherung an den Bruder bleibt, ist der alte Spitzname, dem er nun nachspürt. Denn der Bruder hatte mehr mit dem niedlichen Beuteltier gemein, als man auf den ersten Blick erkennen konnte: Wie der Koala bewegte der Bruder sich Zeit seines Lebens nicht fort aus seiner Heimat, strebte nicht nach Höherem, entwickelte keinerlei Ehrgeiz und verbachte sein Leben so nah am reinen „Da-Sein“ wie möglich. Dass ein solches Wesen – ob nun der Koala oder der Bruder – Bedrohungen durch die von Wettbewerb, Ehrgeiz und Entwicklungszwang getriebenen (Mit-)Menschen ausgesetzt ist, zeigt Bärfuss an Hand der Geschichte des Koalas, der zunächst von australischen Ureinwohnern in die entlegensten Gegenden zurückgedrängt und später von britischen Kolonialisten nahezu ausgerottet wurde. Gerettet wurde er am Ende nur dadurch, dass man ihn zu etwas machte, was er nicht war, ein Maskottchen der Niedlich- und Pfiffigkeit.
Und ich begriff auf einmal, warum man es scheute, über den Selbstmord zu reden. Er war nicht wie eine Krankheit ansteckend, er war überzeugend wie ein schlüssiges Argument. Es war eine Lüge zu behaupten, dass man die Selbstmörder nicht verstand, im Gegenteil. Jeder verstand sie nur zu gut.
Sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstmord
Koala, der dritte Roman des Schweizer Autors Lukas Bärfuss, setzt sich zugleich indirekt und persönlich mit dem Thema Selbstmord auseinander. Den größten Teil des Romans macht der lange Exkurs zur Geschichte des Koalas aus, der nur vordergründig nichts mit dem Bruder zu tun hat, denn die ganzen Jagd- und Ausrottungsszenen bilden gleichzeitig eine Analogie für das Leben des Bruders, seine Nicht-Kompatibilität mit einer auf Leistung und messbaren Erfolg ausgerichteten Gesellschaft.
Koala wurde ausgezeichnet mit dem Solothurner Literaturpreis 2014. Ein melancholischer, sehr nahbarer und differenzierter Roman, der unvoreingenommen ein Thema aufnimmt, das nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu ist.
Koala ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2014.