Dass Dr. Richard Kornitzer jüdischer Abstammung ist, hatte eigentlich nie Einfluss auf sein Leben. Seine Frau ist Protestantin, die Kinder sind getauft und sein Vater hat im 1. Weltkrieg auf der Seite der Deutschen gekämpft. Mit seinem eigenen Jüdischsein kommt er erst in Berührung, als er deswegen seine Arbeitsstelle als Richter verliert, als er plötzlich nicht mehr im Wannsee baden darf und als seine Frau Claire, die zu ihm steht und sich nicht scheiden lassen will, ihre Firma weggenommen bekommt. Den Kornitzers ist schnell klar, dass es für alle sicherer ist, das Land zu verlassen, und so werden zuerst die Kinder Georg und Selma nach England gebracht, wo die Eltern sie in Sicherheit glauben. Der Plan ist, gemeinsam bis in die USA auszuwandern, zunächst über Kuba, und erstmal soll Richard alleine dorthin. Doch aus dem erstmal wird eine andauernde Lösung, der Krieg verhindert die Ausreise von Claire, und die Familie ist für zehn Jahre getrennt.
„Landgericht“ beginnt, als Richard Kornitzer zurückkehrt nach Deutschland, in ein Land, das er nicht mehr kennt, und in eine Situation, die an Ungewissheit kaum zu überbieten ist. Und so fragt er sich schon am Bahnsteig, ob seine Frau, die er zehn Jahre nicht gesehen hat, ihn überhaupt abholen kommt, ob er sie erkennt – und sie ihn -, und wenn ja, ob sie noch wie vorher Mann und Frau sein können. Claire holt ihn ab, und die beiden erkennen sich und finden auch einen Weg, die zehn Jahre zwischen einander zu überbrücken, doch damit ist die Lücke zur eigenen Vergangenheit längst nicht geschlossen.
Versuch, an die eigene Vergangenheit anzuknüpfen
Der sehnlichste Wunsch der Kornitzers ist es, wieder eine Familie zu sein, die Kinder bei sich zu haben und das alte Leben, das ihnen genommen wurde, so gut wie möglich fortzusetzen. Doch alles ist knapp im Nachkriegsdeutschland, Wohnraum wie Arbeit. Claire ist auf einem Bauernhof im Süden Deutschlands untergekommen, wo sie der Familie zur Hand geht und ein Zimmer bewohnt. Für eine vierköpfige Familie ist das keine gelungene Basis, und Richard, der sein Leben lang nichts anderes sein wollte als Richter, setzt alles daran, wieder in seinen alten Beruf zurückzukehren. Das gelingt ihm nach einigen Mühen und etlichen Briefen auch, jedoch wird er an das Landgericht Mainz versetzt, wo auch er nur ein Zimmer zur Untermiete findet, so dass das Ehepaar aus rein pragmatischen Gründen zunächst wieder getrennt leben muss.
Doch es gibt auch gute Nachrichten: Die Kinder, deren Spur sich in den Kriegswirren verloren hatte, sind vom Roten Kreuz ausfindig gemacht worden, und Claire macht sich auf den Weg nach England, um sie zu besuchen und eine möglichst baldige Rückkehr einzuleiten. Aber die Kinder von damals sind mittlerweile Jugendliche bzw. – in Georgs Fall – junge Erwachsene, die kein Deutsch sprechen und kaum Erinnerungen an die Eltern haben. Und die auf keinen Fall zurück nach Deutschland wollen, das Land, das ihre jetzige Heimat bedroht und angegriffen hat. Georg ist volljährig und steht auch kurz vor dem Schulabschluss, so dass den Eltern nur bleibt, einen Versuch zu unternehmen, Selma zurückzubringen. Doch Richard und Claire sehen bald ein, dass sie dem Mädchen damit eher schaden und dass die Familie nicht so einfach wieder zusammengeführt werden kann. Also lassen sie Selma schweren Herzens nach England zurück.
Deutscher Buchpreis 2012 für „Landgericht“
„Landgericht“ ist die Geschichte einer versuchten Rückkehr, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Was vor der Flucht, vor der Rückkehr geschah, spielt nur noch als Grundlage des später Erlebten eine Rolle und kommt nur hin und wieder in Rückblenden zur Geltung. Viel stärker im Vordergrund steht der Versuch, wieder an ein altes Leben anzuknüpfen, eine Normalität zu erreichen, die längst verloren ist. Dennoch geben die Kornitzers nicht auf, versuchen fast trotzig, wieder zurückzuerobern, was ihnen genommen wurde. Dabei finden sie sich oft hilflos wieder, wenn die Tochter wegläuft, der Sohn sich nur noch George statt Georg nennt und Richard Kornitzer nicht weiß, ob er sich über seine schnelle Beförderung einfach mal nur freuen darf.
Insgesamt fesselt die Geschichte der Kornitzers, auch wenn das Buch ein paar Längen hat. Dennoch kann man sich zu jeder Zeit in das zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankende Ehepaar versetzen, das einfach nur dort weitermachen möchte, wo es aufgehört hat.
Ursula Krechel erhielt für „Landgericht“ den Deutschen Buchpreis 2012.
Infos zum Buch
Landgericht
Ursula Krechel
492 Seiten
Erstausgabe 2012
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