Es ist noch nicht sehr lange her, dass sich Menschen auf eine monatelange beschwerliche Reise begaben, weil sie von einem Land gehört hatten, in dem es jedem möglich sein sollte, seinen Traum zu erfüllen und unabhängig von seiner Herkunft erfolgreich zu sein. In Zeiten der Globalisierung scheint man kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten mehr zu brauchen, die Chance auf ein wie auch immer definiertes besseres Leben wartet selbst dann – so heißt es – vor der eigenen Haustür, wenn diese auf die Straßen des Londoner Nordwestens führt, einem Stadtteil, in den man nicht zieht, sondern aus dem man kommt.
Leah Hanwell stammt aus Willesden, und im Vergleich zu ihren Nachbarn geht es ihr und ihrem französisch-algerischen Mann Michel gar nicht so schlecht: Beide habe Jobs – sie bei der staatlichen Lotterie, er als Friseur -, Leah hat eine kleine Summe von ihrem Vater geerbt, aus der Michel abends vom heimischen Rechner aus an der Börse mehr machen will, und ihre Sozialwohnung hat sogar einen Garten. Es geht den beiden sogar so gut, dass Leah Opfer eines Haustür-Betrugs durch eine ehemalige Mitschülerin wird. Trotzdem hat Leah das Gefühl, im Leben nicht genug vorangekommen zu sein, und die Tatsache, dass alle Welt von ihr erwartet, demnächst endlich ein Kind zu bekommen, schränkt die Aussicht auf weitere Möglichkeiten im Leben noch mehr ein.
Aufsteiger und Verlierer in einer sich neu sortierenden Gesellschaft in London NW
Leahs älteste und beste Freundin Natalie hat ihre Herkunft so weit abgelegt, dass sie sogar ihren Vornamen geändert hat. Als sie noch Keisha hieß, ging sie gemeinsam mit Leah zur Schule und bewunderte die Hanwells für ihren relativen Reichtum. Mittlerweile ist Natalie erfolgreiche Anwältin, schafft es nebenher noch, zwei Kinder großzuziehen und ihr Mann hat den Beruf, der am besten die Auswirkungen von Globalisierung und Kapitalismus symbolisiert: Er ist Investment-Banker. Doch auch Natalie hat in ihrem Leben Leerstellen, die sie weder durch Arbeit noch durch Familie füllen kann.
Wie das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ mehr als deutlich zeigt, gehen Entwicklungschancen nicht nur in eine Richtung. Ein weiterer Schulkamerad von Leah und Natalie, Nathan, hat eine ganz andere Richtung im Leben eingeschlagen, lebt auf der Straße, nachdem man ihm in der Schule eine glänzende Karriere als Sportler vorhergesagt hatte. Doch Gewinner kann es eben nur geben, wenn es auch Verlierer gibt, und so finden alle zwar bedauerlich, dass Nathan sein Potenzial nicht ausgeschöpft hat, aber wundern muss man sich darüber auch nicht.
Zwischen all dem passiert ein Mord in Willesden, auf der offenen Straße wird ein junger Mann von einem anderen erstochen. Für manche nicht der Rede wert, für andere bezeichnend, zieht sich diese Tat durch das Buch, wird aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen, wenn auch teilweise nur am Rande.
London NW erzählt aus dem Alltag verschiedener Londoner, wobei Leah und Natalie den meisten Raum einnehmen. Der erste Teil, aus Natalies Sicht geschrieben, ist dabei noch der „erzählerischste“. Insgesamt taucht man eher in die Gedanken der Protagonisten ein, wodurch sie einem jedoch nicht näher, sondern sogar entfernter erscheinen, denn jegliche Interpretation des Verhaltens bleibt dem Leser überlassen oder außen vor. So erlebt man quasi von außen die Neu-Sortierung eines Mikro-Kosmos, in dem die Herkunft zwar nach wie vor wichtig, aber nicht mehr alles bestimmend ist. Der soziale Wohlstand, nach dem alle im Buch (und natürlch überhaupt) streben, ist am Ende kein Glücksgarant: Leah und Natalie steuern gleichsam in Sinn-Krisen, die unabhängig von Hautfarbe, Beruf und familiärer Situation für beide die Frage aufwirft, was sie im Leben eigentlich wollen, sie aber gleichzeitig als Freundinnen sprachlos nebeneinander lässt.
In London NW spielt die Freundschaft zwischen den beiden Frauen zwar eine große Rolle, dennoch ist der Roman keine Geschichte über Freundschaft, sondern über die Gesellschaft, in der diese Freundschaft stattfindet. Die Großstadt, in der die unterschiedlichsten Hintergründe aufeinandertreffen bietet dabei für manche Chancen, bedeutet für andere den Abstieg, für die große Mehrheit aber bleiben die Träume von einem anderen, besseren Leben einfach nur, was sie sind.
London NW ist ein sehr moderner Gesellschaftsroman, der ein überaus realistisches Bild unserer Zeit zeichnet.