Es beginnt mit einer Kopfverletzung, für die es keine Erklärung gibt. Catrina, neuseeländische Studentin und Erzählerin der Novelle „Lügenspiele“, telefoniert benommen mit der Polizei, während sie sich die blutende Wunde hält und versucht, nicht ohnmächtig zu werden. Offensichtlich ist sie gerade in ihrer Wohnung überfallen worden.
Später, im Krankenhaus, kann sie dem Polizisten, der sie befragt, nicht viel dazu sagen, was passiert ist. Doch die Polizei hat schon selbst ermittelt – Catrina war vor dem Überfall in ihrer Wohnung bei ihrer besten Freundin Babe, die ihren 27. Geburtstag gefeiert hat, und ist von dort im Streit verschwunden. Worum es bei dem Streit ging – auch das ist unklar. In der Nähe von Catrinas Wohnung wurde aber ihr Ex-Freund Wayne aufgegriffen, der schon ein beträchtliches Vorstrafenregister aufweisen kann und dem es durchaus zuzutrauen wäre, dass er seine Ex-Freundin schlägt. Es wäre nicht das erste Mal, dass er handgreiflich wird. Doch eine befriedigende Erklärung für die Verletzung und vor allem für Catrinas verschlossenes Verhalten der Polizei gegenüber ist das noch nicht.
Undurchsichtige Erzählerin
Kaum aus dem Krankenhaus entlassen fährt Catrina zu Babe, um den Streit beizulegen, sich mehr oder weniger bei ihr zu entschuldigen, aber vor allem, um sie dazu zu bringen, das Wochenende mit ihr außerhalb der Stadt zu verbringen. Als Babe zögert, weil sie nicht so spontan weg will, gesteht Catrina ihr unter Tränen, dass eine Überraschungsparty geplant war und dass es Catrinas Aufgabe gewesen wäre, Babe unauffällig in ein Motel zu locken, was jetzt wegen des Streits nicht funktioniert hat. Babe willigt ihrer Freundin zuliebe sofort ein, und die beiden machen sich auf den Weg ins „The Mirage“.
Doch irgendwann stellt selbst Babe fest, dass Catrinas Geschichten keinen Sinn ergeben. Der Geschäftsführer des Motels erinnert sich nicht an eine Reservierung, die Freunde, die zu der Überraschungsparty kommen sollten, tauchen nicht auf, worüber Catrina nicht mal erstaunt scheint, und für die Kopfwunde gibt es plötzlich nicht nur eine, sondern eine ganze Menge verschiedener Erklärungen, die man als Leser alle nicht glaubt. Und von den Anrufen im Motel, die Catrina nicht beantwortet, weiß Babe nicht mal etwas.
„Literarisches Roadmovie“
Schon der erste Satz von „Lügenspiele“ („Meine Hände sind voller Blut.“) prägt die mysteriöse Grundstimmung, die das ganze Buch über erhalten bleibt. Von Anfang an hat man das Gefühl, Catrina, die die Geschichte ja erzählt, nicht vertrauen zu können. Sie belügt ganz offensichtlich die Polizei und ihre beste Freundin, und an einer Stelle in ihrer Erzählung weiß sie einen Moment lang nicht mehr, zu wem sie eigentlich spricht. Dabei wirkt Catrina oft wie eine leere Hülle, die einfach aufnimmt, was andere ihr vorgeben. Jahrelang staffiert Babe die Freundin regelrecht aus, schneidet und färbt ihr die Haare, schminkt sie wie eine Puppe und macht Catrina praktisch zu ihrem Kunstwerk – was der nicht nur nichts ausmacht, sondern was sie regelrecht genießt. Und auch ihr Schläger-Freund Wayne entscheidet eher für sie als mit ihr, bis Catrina sich von ihm trennt – auf Anraten von Babe. Durch die gesamte Geschichte hinweg wird das Bild einer jungen Frau entworfen, die nicht anders kann, als sich fremdbestimmen zu lassen, und so hat man als Leser auch immer den Verdacht, dass alles, was Catrina tut oder sagt, durch jemand anderen gesteuert sein könnte.
Der Verlag bewirbt „Lügenspiele“ als „literarisches Roadmovie“, und tatsächlich hat der Roman viel von einem Film. Der szenische Aufbau wirkt fast wie ein Drehbuch, immer wieder werden bewusst Anspielungen auf das Medium Film eingestreut und scheinbar zusammenhanglos erzählt Catrina Anekdoten aus ihrem Leben oder Wissen, das sie sich irgendwo angelesen oder aufgeschnappt hat. Und es sind auch vor allem Bilder und Dialoge, die Chad Taylor entwirft und die noch lange nach dem Lesen haften bleiben – auch wenn man bis zum Schluss nicht weiß, was davon Wahrheit ist und was Catrinas Fantasie entspringt.
Infos zum Buch
Lügenspiele
(Pack of Lies)
Chad Taylor
126 Seiten
Erstausgabe 1994
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