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Eine andere Version der Geschichte

von Yvonne

Ob man nun gläubiger Christ ist oder nicht: Den Einfluss, den Jesus von Nazaret auf die Menschheitsgeschichte hatte und noch heute auf unsere moralischen Vorstellungen vor allem in der westlichen Welt hat, kann niemand leugnen. Die historische Person Jesus, der Wanderprediger, dessen Lehren eine der Weltreligionen begründete, wird in Colm Tóibins Roman „Marias Testament“ entmystifiziert, indem Jesus‘ Leben aus der Sicht seiner Mutter Maria erzählt wird. Jahre nach dem Tod ihres Sohns wird Maria, mittlerweile eine alte Frau, der selbst klar ist, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, von zwei der Evangelisten (vermutlich Matthäus und Johannes, auch wenn ihre Namen nicht genannt werden) an einem sicheren Ort versorgt und irgendwie auch gegen ihren Willen festgehalten. Man möchte von ihr Informationen aus erster Hand über ihren Sohn bekommen, doch Maria war die Aufmerksamkeit, die Jesus durch sein Auftreten, seine Reden und sein Gefolge erregten, von Anfang an suspekt. Einen Teil dazu beizutragen, dass dieser Kult um die Person ihres Sohns lange Jahre nach seinem grausamen Tod gefestigt wird, kommt für Maria nicht in Frage. Stattdessen reflektiert sie im Wissen, dass sie nicht mehr viel Zeit dafür haben wird, ihr Leben, ihre Beziehung zum Sohn, die Rolle, die sie für ihn gespielt hat und die Fehler, die sie begangen hat.

Zwischen mütterlicher Sorge und Angst ums Überleben

Maria lässt keinen Zweifel daran, dass sie Jesus nicht für den Sohn Gottes hält, auch wenn sie die Auferweckung von Lazarus durch Verwandte geschildert bekommen und die Wandlung von Wasser zu Wein selbst bezeugt hat. Diese Dinge nimmt sie einfach hin, macht sich aber stattdessen viel mehr Sorgen darum, dass ihr Sohn sich mit den falschen Leuten eingelassen hat und dass das Aufsehen, dass er erregt, ihm am Ende nur schaden wird. Wir wissen, dass sie Recht behält, doch Maria selbst ist überrascht über die Härte, mit der man gegen ihren Sohn vorgeht, über die Ausweglosigkeit der Situation und darüber, dass sie selbst ins Visier der römischen Regierung gerät, die auch die Jünger Jesu verfolgt.

„Marias Testament“ eröffnet einen ungewohnten Blick auf Jesus – den Blick einer Mutter, die sich um ihr Kind sorgt und die es vor den Gefahren der Welt beschützen möchte und mit Besorgnis feststellt, dass ihr Kind genau diesen Schutz dringend braucht – und macht ihn somit besonders menschlich. Dazu schafft Tóibín es, die Geschehnisse so lebhaft und greifbar zu schildern, dass man glaubt, man stehe selbst inmitten der aufgepeitschten Menge auf dem Berg Golgota. Wer einen blasphemischen, auf Skandal ausgerichteten Reißer befürchtet, kann beruhigt sein: „Marias Testament“ stellt die Frage, ob Jesus von Nazaret „nur“ eine der bedeutendsten historischen Personen oder tatsächlich der Sohn Gottes war, gar nicht. Aus Marias Sicht ist vor allem klar, dass Jesus ihr Sohn ist, und als Mutter ist ihr vor allem das Wohlergehen ihres Kindes wichtig, und nicht, dass er das Leben anderer beeinflusst.

„Marias Testament“ ist am 24.2.2014 auf Deutsch erschienen. Aktuell steht der Roman auf der Longlist für den Man Booker Prize 2013.

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