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Mein Herz so weiß (Javier Marías)

von Yvonne
Mein Herz so weiß

Cover zu „Mein Herz so weiß“

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Kontakt mit „Mein Herz so weiß“: Ich hatte die Schule gerade hinter mich gebracht, war mit einer Freundin in der einzigen Buchhandlung am Ort, und sie zog dieses Buch aus dem Regal und drückte es mir in die Hand. „Ich glaube, das ist was für dich“, sagte sie, während sie es aufblätterte. „Lies einfach mal den ersten Satz.“ Das tat ich. Und kaufte das Buch an Ort und Stelle, was damals sehr ungewöhnlich für mich war. Aber nach diesem Satz konnte ich auf keinen Fall aufhören.

 

Die Macht der Sprache

Dass Worte Menschen dazu bringen können, Dinge zu tun, die sie gar nicht vorhatten, demonstriert der Roman nicht nur selbst, sondern es ist auch sein Thema. Juan ist frisch verheiratet mit Luisa. Beide arbeiten als Dolmetscher, und sie haben sich kennengelernt, als sie während eines Regierungsgesprächs ihre Übersetzungen etwas freier wählten, um die beiden Regierungsvertreter vor einer unangenehmen, weil sprachlosen Situation zu bewahren. Ein Jahr lang waren die beiden ein Paar, bevor sie geheiratet haben, und nun verbringen sie ihre Hochzeitsreise in Nord- und Südamerika.

Da beide berufsbedingt ein besonderes Gespür für Sprache besitzen, fällt ihnen im Hotel der Streit eines Paares auf, über den sie später noch sprechen. Juan wird dadurch vor allem an seine eigene Familiengeschichte erinnert, über die er erst vor kurzem Bruchstücke erfahren hat. Dass sein Vater vor der Ehe mit Juans Mutter bereits zwei Mal verheiratet war und beide Frauen überlebt hat, hat er irgendwann in einem Nebensatz gehört. Eigentlich war aber immer nur von der zweiten Ehefrau die Rede, die die ältere Schwester seiner Mutter war. Dass sie sich gleich nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Leben genommen hat, wurde jedoch lange in der Familie verschwiegen. Diese eindringlich geschilderte Selbstmordszene ist die eingangs erwähnte Eröffnung des Buchs, und sie ist für Juan der Beginn einer Suche nach Antworten, die ihm niemand geben möchte.

 

„My hands are of your colour; but I shame to wear a heart so white.“ (Lady Macbeth)

Der Titel des Buchs, ein Zitat aus Shakespeares Macbeth, umreißt ebenfalls schon das Thema des Romans: Lady Macbeth, die ihren Mann zum Mord getrieben hat, spricht über die Schuld, die sie für sein Handeln trägt – oder nicht. Dieses Motiv zieht sich durch das Buch: Bin ich für etwas verantwortlich, das jemand auf Grund der Worte, die ich sage tut? Selbst wenn – nicht wie bei Lady Macbeth – die Worte etwas ganz anderes bewirken sollten?

Ich denke auch heute noch, dass man „Mein Herz so weiß“ nach dem ersten Satz (oder den ersten Sätzen) entweder weglegt oder sofort zu Ende liest. Und ich weiß, dass eine Zusammenfassung des Inhalts das nie so wiedergeben kann. Daher der Rat: Wenn man es zufällig irgendwo entdecken sollte, einfach den ersten Satz lesen. Und schauen, ob diese Worte Macht über einen haben.

Infos zum Buch

Mein Herz so weiß (Corazón tan blanco)
Javier Marías
Erstausgabe 1992
352 Seiten

 


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