Für jedes Kind gibt es eine uneinnehmbare Bastion, eine unbeugsame letzte Instanz, an die man sich wenden kann, wenn die eigene Welt unterzugehen droht. Wenn die Großmutter nicht mehr ansprechbar ist, der Vater verschwunden, die Mitschüler einen hänseln – am Ende bleibt eine Person, auf die man sich immer verlassen kann: die eigene Mutter. Mit Menschen, auf die man sich verlassen kann, hat der zehnjährige Luca kaum Erfahrungen gemacht. Seine Mutter ist depressiv, was er daran merkt, dass sie überdurchschnittlich oft traurig ist, viel allein und er sich oft als Last für seine Mutter empfindet. Luca und seine Mutter leben allein, seit der Vater nicht mehr da ist. Ob er nun tatsächlich gestorben ist oder sich einfach aus dem Staub gemacht hat, weiß Luca nicht, und alles, was ihn mit seinem Vater verbindet, ist dessen Abwesenheit. In der Schule ist er als Halbwaise stigmatisiert, viele Freunde hat er nicht, und seine größte Sorge gilt der zu Hause in sich zurückgezogenen und an der Welt und ihrer Einsamkeit verzweifelnden Mutter. Luca hat sich längst daran gewöhnt, dass seine Bastion nicht ganz so uneinnehmbar, seine letzte Instanz nicht zu 100 Prozent unbeugsam ist. Und er hat sehr früh gelernt, was jeder lernen muss, wenn er erwachsen wird: sich selbst Verteidigungslinie und Ratgeber zu sein.
Meine erste Lüge: Ein viel zu erwachsener Junge
Für sein Alter übernimmt Luca schon sehr viel Verantwortung, vor allem für sich selbst. Ganz ungewöhnlich ist es nicht, als seine Mutter eines Morgens nicht aufsteht, um ihn vor dem Gang zur Schule zu verabschieden. Auch dass sie nachmittags immer noch unverändert im Bett liegt, ist nicht das erste Mal, doch als die Mutter sich auch abends noch um keinen Zentimeter geregt hat, dämmert ihm, dass seine Mutter vielleicht nicht mehr lebt. Für Luca steht außer Frage, dass niemand vom Tod seiner Mutter erfahren darf, denn da es keinen anderen Erwachsenen gibt, der sich um ihn kümmern könnte, wäre die Konsequenz für ihn ein Platz im Waisenhaus, über das er schon unzählige Horror-Geschichten gehört hat. Da Luca es ohnehin gewohnt ist, viel Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, macht er nun einfach den ganzen Schritt zum Erwachsensein, wie er es sich vorstellt. Er schließt das Schlafzimmer ab, sorgt dafür, dass Kater Blu immer Essen hat, achtet darauf, in der Schule nicht durch schmutzige Kleidung oder Zuspätkommen aufzufallen und denkt sich Ausreden für neugierige Mitschüler und deren Mütter aus. Zu Hause versinkt er in Einsamkeit, Angst und Schuldgefühlen, doch die Angst vor der Alternative Waisenhaus lässt ihn an seiner Verheimlichungsstrategie festhalten.
Wenn Menschen glücklich sind, sterben sie nicht so, durch Zufall.
Vieles deutet darauf hin, dass Lucas Mutter sich das Leben genommen hat, und auch Luca dämmert, dass ihr Tod etwas mit ihrer häufigen Traurigkeit zu tun hat. Da „Meine erste Lüge“ aber konsequent aus der Sicht des Kindes geschildert wird, bleibt die Antwort auf die Frage, wie Lucas Mutter gestorben ist, genau so offen wie die nach dem Verbleib des Vaters. Stattdessen erfährt man viel von den Hoffnungen und Vorstellungen Lucas, beispielsweise wie er sich ausmalt, dass es doch noch irgendeinen Weg gibt, seine Mutter zurückzubringen, und sei es als Geist, der ihn hin und wieder besucht.
Anfangs scheint es, dass die Sprache von Luca viel zu erwachsen und vernünftig klingt, doch je weiter man „Meine erste Lüge“ liest, desto plausibler ist das, da Luca zwar biologisch und emotional zehn Jahre alt sein mag, auf rein rationaler Ebene aber längst dazu gezwungen wurde, älter zu sein als er ist.
„Die erste Lüge“ ist ein sehr melancholischer Roman über einen Jungen, der viel zu viel Verantwortung übernehmen muss und der sich in einer Grenzsituation nur auf sich selbst verlässt. Der Roman ist äußerst berührend und die Geschichte so ungewöhnlich und fesselnd, dass man das Buch nicht aus der Hand legt, bis man es zu Ende gelesen hat.
Infos zum Buch
Meine erste Lüge
(La prima vera bugia)
Marina Mander
189 Seiten
Erstausgabe 2013
[manual_related_posts]