Als Christine Blasey Ford all ihren Mut zusammennahm, um den – deutlich einflussreicheren – Brett Kavanaugh wegen versuchter Vergewaltigung anzuzeigen, war das sicher kein leichter Schritt. Denn schließlich wissen wir ja alle, wie das aussieht. Kavanaugh stand gerade vor dem nächsten wichtigen Schritt in seiner Karriere, als dieser und ein weiterer Vorwurf laut wurden. Zufall? Und mehr als 30 Jahre waren seit dem Vorfall vergangen. So schlimm kann’s also nicht gewesen sein, wenn man so lange schweigt. Vielleicht aber sind auch die befürchteten Folgen einer Aussage extrem hoch, sodass schon wirklich viel auf dem Spiel stehen muss, dass eine Frau diesen Weg geht. Zum Beispiel, dass ein Mann, der schon in früher Jugend übergriffig gegenüber Frauen war, demnächst entscheiden darf, wie weit diese selbst über ihren Körper bestimmen.
Der Ausgang der Anhörungen hat Christine Blasey Ford leider Recht gegeben zu zögern: Seit Oktober 2018 ist Kavanaugh Richter am Obersten Gerichtshof der USA, so als hätte es die Vorwürfe nie gegeben. Ford dagegen musste mehrfach den Wohnort wechseln, weil sie massiv bedroht wurde.
Fälle wie der von Ford oder Anita Hill zeigen, wie sehr in Fällen von sexueller Gewalt Aussage gegen Aussage steht. Dabei geht es oft gar nicht darum, zu entscheiden, ob wirklich passiert ist, was geschildert wird. Vielmehr wollen Gerichte einordnen, was sexuelle Gewalt ist und was nicht. Gerne würde ich als nächsten Satz hier schreiben: „Als ob das diskutierbar wäre“, aber die Wahrheit ist: weil es diskutierbar ist.
Sexuelle Gewalt als Interpretationsspielraum?
Bettina Wilperts Debütroman nichts, was uns passiert handelt von so einem Fall. Anna und Jonas lernen sich über einen gemeinsamen Freund kennen, können sich so mäßig leiden, verbringen aber trotzdem einmal einen netten Abend miteinander und haben Sex. Danach ist mehr oder weniger Funkstille, weil Jonas noch an seiner Ex hängt und Anna nicht an einer Beziehung interessiert ist. Beim Geburtstag von besagtem gemeinsamen Freund hängen sie jedoch den ganzen Abend zusammen, diskutieren, trinken, streiten sich und landen schließlich knutschend auf dem Spielplatz in der Nachbarschaft. Anna kann mittlerweile kaum noch stehen, sodass sie die Nacht bei Jonas verbringt. Und in dieser Nacht passiert das, was beider Leben aus der Bahn bringen wird. Vergewaltigung – sagt Anna, Sex – findet Jonas. Schließlich hat er ein Kondom benutzt.
Anna braucht zwei Monate, bis sie sich ihrer Schwester anvertraut und schließlich zur Polizei geht. Erst jetzt erfährt Jonas, was ihm vorgeworfen wird – und fällt aus allen Wolken. Die gemeinsamen Freund*innen und Bekannten wissen nicht, wem sie glauben sollen. Jonas ist ein normaler, netter Typ, Anna trinkt gerne und häufig zu viel – ist es da gerecht, Jonas‘ Leben aufgrund ihrer Aussage zu zerstören?
Ich habe mehrere Rezensionen zu nichts, was uns passiert gelesen. Zwei davon betonen, dass dieser Roman eindringlich zeigt, wie leicht doch so ein Missverständnis passieren kann, wie sehr die Wahrnehmung einer solchen Situation sich unterscheiden kann. Bettina Wilpert macht das tatsächlich geschickt. Sie gibt beiden Protagonist*innen – ganz normale, gebildete, differenziert denkende junge Erwachsene – keine direkte Stimme, erzählt in Fetzen indirekter Rede, die andeuten, dass sowieso alles nur von der eigenen Wahrnehmung abhängig ist, die hier nun mal voneinander abweicht. Die Kapitel, mit Buchstaben durchnummeriert wie Beweisstücke, scheinen ein Bild zu ergeben, dass sich nicht durch eine*n neutrale*n Beobachter*in auflösen lässt. Pech gehabt.
Verzerrte Wahrnehmung
Genau diese scheinbare Uneindeutigkeit ist für mich der Dreh- und Angelpunkt von nichts, was uns passiert. Jonas leugnet nicht, dass Anna betrunken war, dass er in sie eingedrungen ist, dass es vielleicht ein bisschen „wild“ war. Aber Anna hat sich halt nicht so richtig gewehrt, und schließlich hat sie auch so viel getrunken, dass sie sich nicht mehr kontrollieren konnte. Also gab es kein eindeutiges „Nein“, keine starke Gegenwehr. Wie soll da einer wissen, dass der Penis in der Vagina gerade unerwünscht ist?
Je mehr ich über solche Fälle lese, je länger ich mich damit beschäftige, desto wütender und verständnisloser werde ich. Wenn ich zwei Liter Wein trinke, mich jemand fragt, ob er mein Auto zu Schrott fahren darf, und ich nur halbherzig „Nein“ sage, wird niemand hinterher auf die Idee kommen, dass es meine eigene Schuld war. Selbst dann nicht, wenn ich „Ja“ sage, den Schlüssel überreiche und ihn aktiv dazu auffordere. Ich bin schließlich gar nicht in der Lage, das noch zu entscheiden. Und ich muss auch gar nicht stockbetrunken sein, damit das greift. Wenn sich jemand Zutritt zu meiner Wohnung verschafft, ohne dass ich ihn aktiv eingeladen habe, kann er sich auch nicht darauf berufen, dass ich ihn ja nicht davon abgehalten habe. Ohne Einverständnis läuft in den meisten Lebensbereichen, in denen man selbst bestimmen kann, gar nichts.
Warum beurteilen Menschen die Situation in Bezug auf Vergewaltigung, Übergriffe oder jede Form von sexueller Gewalt so anders? Warum stellt sich überhaupt die Frage, ob es in Ordnung ist, mit jemandem Sex zu haben, jemanden anzufassen oder jemanden verbal sexuell zu demütigen, ohne dass diese Person ihr Einverständnis gegeben hätte? Die Antwort ist ebenso einfach wie ernüchternd: weil das Einverständnis hier als der Normalfall gilt. Wenn man nicht einverstanden ist, kann man das ja sagen oder sich wehren oder versuchen, es im Nachhinein gerichtlich zu klären. Wenn ich nicht möchte, dass jemand das mit mir macht, reicht es nicht, davon auszugehen, dass ich einfach niemanden dazu einlade. Wenn sich jemand berufen fühlt, mich zu belästigen, muss ich erst einmal klarstellen, dass ich das nicht will. In jedem einzelnen Fall. Als könnte mir ein Auto mehr gehören als mein eigener Körper.
Implizites Einverständnis?
Was liegt dem zugrunde? Vielleicht der Gedanke, dass Sex super ist, will jede*r, immer. Muss man gar nicht drüber reden. Mehr noch allerdings das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern. Der (cis-)Mann gilt als sexuell stark, dominant und nicht immer kontrollierbar. Kann er nichts für. Wenn er sich nicht ganz im Griff hat, versteht das die Mehrheitsgesellschaft. Diese unkontrollierbare Sexualität wird sogar als Entschuldigung herangezogen, wenn man sich bei Korrumpierbarkeit und Drogenkonsum filmen lässt – sorry, die Frau war halt scharf.
Erst seit 1997 ist in Deutschland Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand anerkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen die gesetzgebenden Stellen davon aus, dass es in der Ehe keine Vergewaltigung geben kann, weil verheiratet gleichbedeutend mit Recht auf / Zwang zum Sex war. Oder anders ausgedrückt: Sex gegen den Willen einer der Parteien konnte nicht stattfinden, weil es kein Recht auf einen eigenen Willen in Bezug auf diese eine Sache gab. Hier liegt also ein strukturelles Problem vor. Bei einer Vergewaltigung oder sexueller Gewalt wird immer auch ein wenig Schuld beim Opfer gesucht, weil ja quasi jedes Verhalten als Signal oder Einladung verstanden werden kann – wenn man nur möchte.
Eine Gesellschaft, die davon geprägt ist, dass man sich gegen eine Vergewaltigung wehren und nicht etwa sexuellen Handlungen zustimmen muss, bringt Fälle wie die von Jonas und Anna hervor. Man könnte sagen, Jonas wusste es ja nicht besser, er ist in dieser Gesellschaft sozialisiert, und anders als bei anderen Delikten greift in der Sexualität keine Schranke, die ihn davon abhält, übergriffig zu werden. Doch sechs Jahre nach #Aufschrei, zwei Jahre nach #MeToo kann jede*r halbwegs informierte Erwachsene wissen, was in Ordnung ist und was nicht. Auch auf individueller Ebene zeigt Bettina Wilpert hier also ein Versagen. Bei Jonas. Bei den gemeinsamen Freund*innen. Nicht bei Anna. Und von einem Missverständnis kann ganz sicher keine Rede sein.
nichts, was uns passiert lenkt gerade durch die beiden verschiedenen Perspektiven den Blick darauf, wie viel Arbeit an dieser Stelle noch vor unserer Gesellschaft liegt. Oder anders ausgedrückt: Wenn sich die an der sexuellen Handlung beteiligten Personen nicht einig darüber sind, ob es einvernehmlich war oder nicht, kann man nicht von einem Missverständnis sprechen. Dann war es nicht einvernehmlich.
Erster Satz: Dass es im Mai war und dass er sich als Joni vorstellte, obwohl sie ihn nie so nennen würde und auch niemand sonst ihn so nannte.