Man muss nicht lesen können, um Buchstaben zu lieben. Marleen Schuller bewundert schon als Kind die Schrift im Abspann der Fernsehserien, die sie nur zu diesem Zweck ansieht, ohne den Sinn der Worte zu verstehen. Ihre Eltern sind beide in der Werbung tätig – der Vater überall in der Welt und die Mutter im völligen Gegensatz dazu und bei vier Kindern unvermeidlich vom heimischen Atelier in Neuss aus. Schon das auf Stelzen stehende Haus zeigt deutlich, dass die Schullers sich als Vorreiter der Moderne verstehen, und die Kinder werden zu Unabhängigkeit und Selbstständigkeit erzogen. Für Marleen bedeutet das, dass sie mit neun entscheidet, dass der von der Familie praktizierte Katholizismus nichts für sie ist, weil sie als Mädchen nicht Messdienerin werden darf.
Ebenfalls sehr früh ist Marleen schon klar, was ihr im Leben wichtig ist und welchen Traum sie sich auf jeden Fall verwirklichen möchte. Sie möchte die perfekte Schrift erfinden, eine, nach der es keine anderen mehr zu geben braucht, die so unauffällig ist, dass sie hinter dem Text, den sie übermittelt, verschwindet. Diesen Traum behält sie durch die Kindheit hindurch bis ins Erwachsenenalter, auch wenn sie ihn mit niemandem teilt. Aber dazu wäre wahrscheinlich ohnehin keine Gelegenheit: der Vater kehrt von einer seiner zahlreichen Dienstreisen nicht zurück, weil er die Erfüllung seines eigenen Traums in einer fragwürdigen Sekte in Indien gefunden zu haben glaubt, so dass Mutter Schuller mit der Sorge für und um die vier Kinder schon genug zu tun hat.
Zielstrebiges Verfolgen eines Traums
Dass bei Marleen Legasthenie diagnostiziert wird, bringt sie nicht davon ab, ihr Ziel weiter zu verfolgen; eigentlich ist es kaum erwähnenswert. Sie liest eben etwas langsamer und mühsamer, aber das hindert sie nicht daran, einen Text als Ganzes zu erkennen, ein Gespür dafür zu entwickeln, wie Buchstaben aussehen sollten. Nach dem Abitur, 1984, macht sie in Kassel ein Praktikum, bei dem sie lernt, wie man Texte setzt, und zum ersten Mal wirklich auf sich allein gestellt ist. Verschiedene Stationen ihres Lebens – Studium in Kassel, Arbeit in Paris – und Rückblenden in ihre Kindheit erzeugen das Bild einer Frau, die ihr Glück in der Realität, in etwas Handfestem wie einer Schriftart sucht, während ihr Umfeld mit religiösen, politischen oder karrieristischen Gedanken beschäftigt ist.
Lebensnahes Portrait einer Zeit
„Nichts Weißes“ erzählt zum einen die Entwicklungsgeschichte der Hauptfigur Marleen bis zu einem Zeitpunkt, an dem sie ihr Ziel erreicht und sich selbst gefunden hat. Darüber hinaus ist der Roman eine Familiengeschichte und ein Gesellschaftsportrait aus den 1970ern und 1980ern. Dabei bedient sich Ulf Erdmann Ziegler keiner popkultureller Anspielungen, die einen sofort denken lassen würden „Klar, die Achtziger!“, sondern beschreibt stattdessen das Gemeinschaftsleben in der Kleinstadt und in der Familie, in der Religion noch eine Rolle spielt, man ein schlechtes Gewissen hat, dass man sich nicht mehr politisch engagiert und in der das digitale Zeitalter noch keinen Einzug gehalten hat. Ulf Erdmann Ziegler begegnet seiner Hauptfigur, deren Traum irgendwann von der Technologie einfach überholt wird, mit absoluter Ernsthaftigkeit.
Vor allem die Sprache und die Satzkonstruktionen bestechen in „Nichts Weißes“. Das Wie steht hier mindestens so sehr im Fokus wie das Was, und die Beschreibungen sind detailverliebt und genau beobachtet.
„Nichts Weißes“ steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012.
Infos zum Buch
Nichts Weißes
Ulf Erdmann Ziegler
259 Seiten
Erstausgabe 2012
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