Berlin, 2012. Tristan Funke lebt noch gar nicht so lange in der Stadt, hat aber schon einige Bekanntschaften gemacht, die ihm helfen, sich ganz zu Hause zu fühlen. Als seine Beziehung mit Saskia vor ein paar Jahren in die Brüche ging, ist er Hals über Kopf aus Hamburg geflohen, um in der Hauptstadt von vorn zu beginnen und – besonders wichtig – seinen Roman Otis zu vollenden. Dieser soll eine Adaption der Odyssee auf das moderne Leben werden, Hauptfigur Otis ist Programmierer einer File-Sharing-Webseite und gerät dank seines in noch allerhand andere kriminelle Machenschaften verstrickten Chefs in Drogen-Geschäfte und damit ins Visier der internationalen Fahndung.
Tristans eigenes Leben ist deutlich ereignisärmer als das seines Protagonisten Otis. Der Besuch von Onkel und Cousine scheint da eine erste willkommene Abwechslung zu sein, zumal der Onkel Tristan gleich verpflichtet, auf Juli aufzupassen, die das offensichtlich auch dringend nötig hat. Zwischen Schreibversuchen und Theaterbesuch mit Juli muss Tristan außerdem die Frauen in seinem Leben organisieren – Saskia wird er wahrscheinlich zum ersten Mal seit der Trennung auf der Abschiedsparty seines Freunds Ole wiedersehen, Leslie glaubt fest an eine Beziehung mit Tristan, die er selbst jedoch gar nicht sieht, Schauspielerin Stella ist immer eine nette Abend-Begleitung und Nora, für die er seit langem schwärmt, lässt ihn regelmäßig abblitzen.
Otis, Tristan und Odysseus: Abenteuerreise der Ereignislosigkeit
Das Motiv der Odyssee, das Hauptfigur Tristan in seinem Roman verwendet, spiegelt sich natürlich auch auf der Meta-Ebene des Romans wider. Die Odyssee, auf die sich Tristan in Berlin begibt, ist auf den ersten Blick mit dem Original jedoch nicht zu vergleichen und auch viel weniger dramatisch als die Otis zugedachte. Ein Restaurantbesuch, eine Busfahrt, ein Tag im Zoo und – um alles andere noch zu übertreffen – das Anschauen der Aufzeichnung eines Darts-Spiels aus dem letzten Jahrzehnt – sind die Höhepunkte der Geschichte und auch in Tristans Leben. Gerade im Kontrast zur doch sehr kriminalistisch ausgelegten Odyssee-Variante, auf die Otis geschickt wird, wirken Tristans Erlebnisse nahezu banal.
Diese scheinbare Ereignislosigkeit ist es jedoch, was das moderne Leben kennzeichnet: alle Probleme sind gelöst, alle Abenteuer bestritten, jetzt geht es nur noch darum, die Zeit so gut wie möglich rumzukriegen und – vielleicht – einen Fußabdruck zu hinterlassen. Da wird die Suche nach der Frau fürs Leben, die immer sehr wahrscheinlich die eine ist, die man gerade nicht haben kann, zur einzigen und somit wichtigsten Aufgabe. Die großen und mittelgroßen Ereignisse in der Welt, von denen Tristan immerhin eins ein Stück streift, spielen sich als Hintergrund-Berieselung des eigenen Lebens in den Nachrichten ab.
Jochen Distelmeyer war bis 2007 Sänger der Band Blumfeld, und wenn ein Künstler das Fach wechselt und sich eine neue Form des Ausdrucks sucht, wird er meist doppelt kritisch betrachtet. Entsprechend stieß Otis auf sehr geteiltes Echo, das sich irgendwo zwischen „Da passiert ja gar nichts“, „Die Texte von Blumfeld waren aber besser“ und „Endlich ein Schriftsteller, der weiß, was er tut“ abspielte. Dabei sind die Irrungen Tristans in ihrer ganzen Fast-Banalität dann eben doch sehr berührend und vor allem treffend, ist doch eins der schwerwiegendsten Probleme des modernen Menschen, dass er kaum noch Probleme zu Lösen hat. Einzig der berichtartige Stil, in dem Distelmeyer seinen Nicht-Helden beschreibt und bei dem jede halbwegs wichtige Person nicht nur einen Namen, sondern auch eine Berufs- oder Herkunftsbezeichnung hat, mit der regelmäßig das Personalpronomen vermieden wird, hält einen beim Lesen ein wenig auf Distanz zu Figuren und Story. Insgesamt jedoch erzählt Otis ansprechend von der Suche nach sich selbst, einem Sinn im Leben und der einen Richtigen und gibt damit ein treffendes Bild unserer Zeit, in der Baustellenlärm und die Verhaftung des Onkels nahezu gleichberechtigt als Störer des eigenen Glücks nebeneinander stehen.