Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich stellte mir als Jugendliche und auch noch als junge Erwachsene Anarchie immer so vor wie den Wilden Westen. Ohne zu wissen, was der Begriff wirklich bedeutet, übernahm ich die Vorstellung, dass die Welt ins Chaos versinken muss, wenn keiner da ist, der für Ordnung sorgt, und dass man als vermeintlich Schwacher nur dann eine Chance aufs Überleben hat, wenn man sich in den Dienst eines Stärkeren stellt. Dann studierte ich irgendwann mit Mitte 20 im zweiten Studiengang Bildungswissenschaft, was mein Denken bis heute stark beeinflusst hat. Eigentlich habe ich erst dort wirklich gelernt, selbst zu denken, und so verstand ich auch erst damals, dass Anarchie einfach nur Abwesenheit von Macht bedeutet, und dass eine chaotische Herrschaft des Stärkeren eben gerade keine Anarchie ist, sondern einfach nur eine andere Herrschaftsstruktur.
Ursula K. Le Guin hat 1974 in ihrem Roman The Dispossessed eine Anarchie beschrieben, wie sie sein könnte, wenn man den Begriff ins einer ursprünglich gemeinten Form verwendet. The Dispossessed ist ein Science Fiction-Roman, der sich mit einer möglichen gesellschaftlichen Entwicklung beschäftigt. Der Untertitel „An Ambiguous Utopia“ verrät zweierlei: Anders als man das mittlerweile von literarischen Zukunftsentwürfen gewohnt ist, handelt es sich bei diesem Roman mal nicht um eine Dystopie. Kein Schreckensszenario wird skizziert, sondern eine Möglichkeit der Verbesserung. Dass aber vielleicht nicht alles besser ist bzw. man sich jede Freiheit in irgendeiner Form erkauft, lässt das Wörtchen „ambiguous“ ahnen. Eine wirkliche Utopie ist Anarres, der Planet, auf dem etwa die Hälfte von The Dispossessed spielt, eben doch nicht.
Das Gegenstück zu Anarres bildet Urras, der Schwesterplanet, von dem aus die Bewohner Anarres‘ ursprünglich stammen. Auf Urras gab es vor mehreren hundert Jahren eine Revolution, angeführt durch Odo, die von einer machtfreien Gesellschaft träumte. Die Revolution wurde beigelegt, indem man den Aufständischen kurzerhand den Mond überließ, wo sie sich mit ihrer eigenen Gesellschaftsstruktur austoben durften und die Wirtschaft auf Urras nicht weiter störten. Tatsächlich schafften es die „Odonier“, dem unwirtlichen Anarres genug Wasser und Nahrung abzutrotzen, um eine funktionierende Gesellschaft zu bilden, in der jeder frei ist, zu tun, was er am besten kann. Privates Eigentum gibt es nicht, dafür erhält jeder das, was er zum Leben braucht.
Shevek kann am besten physikalische Theorien entwickeln. Gerade arbeitet er daran, eine Theorie der Zeit zu entwickeln. Auf Anarres jedoch, wo gerade eine Hungersnot droht, ist das Interesse an Physik nicht besonders groß. Um seine Forschung vorantreiben zu können, entschließt Shevek sich daher, nach Unarres zu gehen und dort mit anderen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten. Seine Brüder und Schwestern, wie man sich auf Anarres nennt, betrachten ihn daher als Verräter. Dabei will Shevek vom Luxus, den man ihm auf Urras ganz automatisch anbietet, gar nichts wissen. Bald schon blickt er hinter die Kulissen des so fortschrittlich wirkenden Planeten und sieht, dass es den einen nur besser gehen kann auf Kosten anderer.
The Dispossessed schildert abwechselnd Sheveks Werdegang vom Schüler zum Wissenschaftler auf Anarres und vom Wissenschaftler zur politischen Identifikationsfigur auf Urras, und dabei kommen beide Planeten und beide Gesellschaftssysteme nicht richtig gut weg. Die Folgen des Kapitalismus auf Urras werden deutlich beschrieben. Wissenschaftler, die es eigentlich besser wissen müssten, schauen weg von der Armut, die direkt neben dem eigenen Reichtum existiert. Der Nutzen des Individuums steht ganz klar vor der Entwicklung der Gesellschaft als Ganzer, und jeder versucht, als Gewinner aus dem täglichen Kampf hervorzugehen. Das Ganze gipfelt in einem blutig niedergekämpften Streik, in dem der Arbeiterklasse deutlich vor Augen geführt wird, wo ihr Platz auf Urras ist.
Doch auch auf Anarres ist nicht alles so frei wie man meinen könnte. Zwar gibt es keine direkte Herrschaft durch eine Regierung, aber schließlich müssen der Planet und die auf ihm anfallende Arbeit verwaltet werden. Entsprechend hat sich eine Bürokratie herausgebildet, die dazu führt, dass der Wille des Einzelnen eigentlich immer der Gemeinschaft untergeordnet werden muss, wenn man nicht Gefahr laufen möchte, ausgegrenzt zu werden. Statt einer Herrschaft Einzelner gibt es hier eine Herrschaft der Gemeinschaft, die aber ähnliche Folgen hat. So wird beispielsweise die Geschichte eines Freunds von Shevek erzählt, der ein Theaterstück schreibt, das nicht dem odonischen Geist entspricht. Da alle entsetzt sind darüber, weist er sich – unter entsprechendem sozialen Druck – selbst in eine Klinik ein, die darauf spezialisiert ist, kranke Mitglieder der Gesellschaft wieder einzugliedern. Auch Shevek spürt die Ausgrenzung, als er auf Urras forschen will, denn am Ende reicht die Freiheit auf Anarres eben auch nur bis dahin, wo andere das eigene Anliegen nachvollziehen können.
Nach dem Lesen von The Dispossessed bleibe ich jedenfalls ernüchtert zurück. Eine Gesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen als höchster Wert angesehen wird, ist eben doch denselben Restriktionen unterworfen wie jede andere Gesellschaftsform. Es gibt knappe Ressourcen, die nach einem möglichst gerechten System verteilt werden müssen, Arbeit, die anfällt und erledigt werden muss, und sich gegenseitig ausschließende Ziele Einzelner. Von all dem kann auch die fortschrittlichste Gesellschaft sich nicht frei machen. Doch auch, wenn Ursula K. Le Guin nicht zu einer wirklichen Utopie kommt, in dem es jeder Person maximal gut geht, zeigt ihr Roman, dass es immerhin ein besser gibt, nach dem es sich zu streben lohnt und bei dem wir heute noch längst nicht angekommen sind.
[desktoponly]
Freie Geister (The Dispossessed) von Ursula K. LeGuinErschienen 2017 bei FISCHER Tor | Anzeige |
[/desktoponly]
[mobileonly]
Anzeige |
Freie Geister (The Dispossessed) von Ursula K. LeGuinErschienen 2017 bei FISCHER Tor |
[/mobileonly]
The Dispossessed habe ich im Rahmen meiner Lese-Reihe Feministische Science Fiction gelesen, und wer bis hierhin gekommen ist, fragt sich vielleicht, was Anarchie mit Feminismus zu tun hat. Ich denke, sehr viel. Unabhängig davon, dass Le Guin die Stellung von Frauen auf Urras und Anarres thematisiert und sehr unterschiedlich beschreibt (Frauen sind so selbstverständlich auf Anarres gleichberechtigt, dass es nicht einmal unterschiedliche Namen für Männer und Frauen gibt), kann das Ziel von Gleichberechtigung sinnvollerweise nur alle Menschen umfassen und nie einzelne Gruppen.
The Dispossessed ist im letzten Jahr in neuer deutscher Übersetzung erschienen und hat dabei mittlerweile den dritten deutschen Titel erhalten. Freie Geister empfinde ich als eine gelungene Übersetzung des Originaltitels und vor allem als deutlich besser passend als die beiden vorigen Titel. Ursprünglich erschien der Roman in Deutschland nämlich als Planet der Habenichtse, was schon mehr ein Kommentar zur politischen Aussage des Buchs als einfach nur ein Titel ist. Der zweite Titel blieb näher beim Original, aber auch Die Enteigneten fasst den Sinn des Romans meiner Meinung nach nicht zusammen. to dispossess heißt enteignen, richtig. Aber der englische Original-Titel spielt auch mit der Doppeldeutigkeit des Worts, denn nicht nur besitzen die Bewohner auf Anarres nichts, sie werden auch von niemandem (und sind von nichts) besessen. Insofern ist Freie Geister zwar weit weg von einer wörtlichen Übersetzung, aber nah am Sinn, und wie wichtig das bei Übersetzungen ist, klärt aktuell ja der Suhrkamp-Verlag in einem ganz anderen Fall.
Le Guins Roman ist älter als ich (nicht viel), aber man merkt dem Buch sein Alter nicht an. Die Themen sind genau so aktuell wie vor mehr als 40 Jahren und Antworten sind auf die Fragen des Buchs bisher nicht gefunden. Aber – und mit diesem Gedanken schließt habe ich The Dispossessed am Ende geschlossen – die Suche danach lohnt sich auch heute.
Erster Satz: „There was a wall.“