Viele Menschen können nur akzeptieren, was sie einordnen können, kategorisieren, katalogisieren, unter dem richtigen Buchstaben in der korrekten Schublade ablegen. Was – und wer – sich dem entzieht, ruft bestenfalls Befremden, schlimmstenfalls Feindseligkeit hervor.
Toto, Hauptfigur in „Vielen Dank für das Leben“, entzieht sich schon der Einordnung in die grundlegendste aller Kategorien: Er/sie ist mit beiden Geschlechtern geboren. Die Mutter, die sowieso kein Kind wollte, und schon gar nicht so eins, bringt es auf dem Punkt: Wer weder Junge noch Mädchen ist, ist nicht etwa beides oder etwas Neues, nein, er ist nichts. Was sie jetzt mit diesem Kind, dem sie der Einfachheit und der Ordnung halber auf dem Papier das Attribut „männlich“ bescheinigen lässt, anfangen soll, weiß sie nicht. Ihrer Wut auf dieses Wesen, das sich tatsächlich einbilden könnte, einen Anspruch auf ihre Zeit, ihre Fürsorge und ihre Zuneingung zu haben, gibt sie Ausdruck, indem sie ihm einen Hundenamen gibt. Im Suff schwanger geworden kann die Mutter die Zahl der möglichen Väter immerhin auf zwei reduzieren, aber für sie oder Toto da ist natürlich niemand. So überlässt sie ihr Kind anfangs sich selbst, später der Obhut eines Kinderheims, in dem Heimleiterin Frau Hagen ein strenges Regiment führt. Schließlich ist man nicht irgendwo auf der Welt, sondern in der DDR, und die Kinder sollen von Beginn an auf ihre Rolle als ordentliche sozialistische Bürger vorbereitet werden.
Leidensweg von der DDR bis nach Paris
Toto, der gar nicht weiß, dass irgendetwas mit ihm „nicht stimmt“, passt auch äußerlich nicht zwischen die anderen Kinder: größer als alle anderen in seinem Alter, zu weiblich für einen Jungen, zu plump für ein Mädchen. Zwar wissen die anderen Kinder nicht, woran es liegt, aber dass Toto keiner von ihnen ist, merken sie instinktiv, und mit der Kompromisslosigkeit von Menschen, die sich im Recht glauben, grenzen sie ihn aus. Toto verbringt seine Kindheit abseits der anderen, doch ein Geschenk hat er erhalten. Seine Körperlichkeit ist nicht das einzige, das ihn von den anderen Menschen unterscheidet. Totos Wesen liegt es außerdem fern, irgendeinen bösen Gedanken zu fassen. Wird er geschlagen, erdultet er es und bringt Empathie und Verständnis seinen Peinigern gegenüber auf, die sicher etwas Schlimmes erlebt haben müssen, um so geworden zu sein. Und natürlich macht ihn das noch mehr zum Außenseiter.
Einen Tag und eine Nacht lang erfährt Toto, was es heißt, einen Freund zu haben. Kasimir, der selbst Außenseiter ist, steht zu ihm – bis er unter der Dusche, unter die ihn Frau Hagen vor allen anderen zerrt, sieht, dass Toto auch körperlich anders ist. Von da an ist Toto noch einsamer als vorher, denn er hat kennengelernt, was ihm vorenthalten wird.
Frau Hagen, die nicht nur eine unerbittliche und kinderverachtende Heimleiterin ist, sondern außerdem Ambitionen auf ein Haus am See hat, verkauft Toto an ein Bauernpaar, als dieser alt genug ist, bei der körperlichen Arbeit von Nutzen zu sein. Ihr ganz kurz zuckendes schlechtes Gewissen ignoriert sie erfolgreich. Für Toto ist die Arbeit auf dem Hof nur ein weiterer trauriger Schritt auf seinem Lebensweg – das Paar trinkt, überlässt die Arbeit vollkommen ihrem Ziehsohn, der in einer Kammer im Stall schlafen muss. Doch wie immer in seinem Leben macht Toto das Beste aus der Situation: Bald hat er den Hof im Griff, und er entdeckt seine Liebe fürs Singen. Da er nichts will und nichts vom Leben erwartet, verschlägt es ihn in eine Kommune nach West-Deutschland, nach Hamburg und irgendwann sogar nach Paris. Und im Hintergrund seines Lebens zieht jemand die Fäden, der ihm nichts Gutes wünscht. Doch das müsste derjenige eigentlich gar nicht – allein Totos Existenz bringt die Menschen so sehr gegen ihn auf, dass es keinen schönen Moment für ihn zu geben scheint.
Mitreißendes, rührendes, schockierendes Buch
„Vielen Dank für das Leben“ handelt von einer Vielzahl an Themen, vor allem aber davon, dass Menschen im allgemeinen sehr gut darin sind, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Toto, der von Geburt an einen Gegenpol zu dieser Neigung bildet, stößt nur auf Unverständnis und Hass. Dabei spricht der Roman einen in jeder Sekunde des Lesens zutiefst emotional an, obwohl oder gerade weil die Sprache eher distanziert ist. Und „Vielen Dank für das Leben“ hält auch Passagen bereit, in denen kleine, scheinbar nebensächliche Details einen so brutal ins Innerste treffen, dass es fast körperlich wehtut.
Sibylle Berg zeichnet ein Bild von einer Menschheit, die nicht anders kann und die es am Ende auch nicht besser verdient hat. Dennoch ist „Vielen Dank für das Leben“ kein gänzlich hoffnungsloses Buch, denn immerhin bringt die Menschheit jemanden wie Toto hervor. Was man mit diesem besonderen, einzigartigen Menschen macht, ist jedoch ein Albtraum, der sich Realität nennt. Aber vielleicht muss man sich ein Stück weit Totos Sichtweise annehmen: glauben, dass es für alles einen Grund gibt und dass niemand es wirklich böse meint.
„Vielen Dank für das Leben“ stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2012.
Infos zum Buch
Vielen Dank für das Leben
Sibylle Berg
400 Seiten
Erstausgabe 2012
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