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Vielleicht ja, vielleicht nein

von Yvonne

Es sind vor allem Leerstellen, an die Autorin Katja Petrowskaja sich aus ihrer Kindheit und Jugend in der Ukraine erinnert: Da, wo eine weit verzweigte jüdische Verwandtschaft hingehören sollte, gibt es keine Großtanten, Cousinen, Onkel, sondern Legenden über Menschen, die Katja Petrowskaja selbst nicht kannte. Diesen Menschen spürt die mittlerweile in Berlin lebende Autorin in Vielleicht Esther nach, reist an die Stätten ihrer Kindheit und Familie und gibt damit denen ein Gesicht, die längst in Vergessenheit geraten sind. Mehr als ein Jahrhundert umfassen die einzelnen Erzählungen, die sich zu einer Familiengeschichte zusammensetzen, beginnen Ende des 19. Jahrhunderts und entfachen sich immer an Dokumenten, Aussagen von Zeitzeugen oder Erinnerungsstücken.

So werden beispielsweise Rezepte und Fotos abgedruckt und die verschiedenen Gehörlosen-Schulen, die die Mitglieder der Familie immer wieder gründeten, aufgezählt. Dass es nicht viele Erinnerungsstücke gibt, ergibt sich aus einem Jahrhundert der Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Familie. Wo jedoch Tatsachen fehlen, wird die Erinnerung eben durch die Vorstellung ergänzt, so zum Beispiel bei der titelgebenden Erzählung, die sich um Katja Petrowskajas Urgroßmutter dreht. Von dieser Frau, die vielleicht Esther hieß, ist nicht viel mehr bekannt als dass sie 1941 bei der Evakuierung Kiews zurückblieb und von deutschen Soldaten erschossen wurde. In Petrowskajas Roman jedoch erhält sie eine Geschichte und somit eine Möglichkeit zur Erinnerung.

Vielleicht Esther: Der Erinnerung mit Recherche und Fantasie auf die Sprünge geholfen

Vielleicht Esther ist zum einen eine Familien-, darüber hinaus aber mindestens genau so sehr eine Erinnerungsgeschichte, in der denjenigen, von denen man herkommt ein Gesicht, eine Geschichte und notfalls eben sogar ein Name verliehen wird.

Mit Vielleicht Esther gewann Katja Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis und ist aktuell für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 nominiert. Ähnlich wie der ebenfalls nominierte Roman Flut und Boden von Per Leo befasst sich Vielleicht Esther mit der Generation der Erinnernden und deren Bewahren des Andenkens und nimmt eine ähnliche Perspektive ein, auch wenn sie politisch quasi das Gegenstück zu Katja Petrowskajas Geschichte erzählt. Vielleicht Esther ist dabei sprachlich deutlich schöner und die Autorin um einiges nahbarer, so dass meine persönliche Empfehlung zumindest dahingeht, Vielleicht Esther als erstes der beiden Bücher zu lesen.

 

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