Jules Moreau lernt schon früh, was Verlust bedeutet: Er ist gerade einmal zehn Jahre alt, als seine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglücken. Dies bedeutet nicht nur ein jähes Erwachsenwerden für ihn, sondern einen deutlichen Einschnitt in seinem jungen Leben. Wuchs er bisher sorglos und unter der liebevollen Aufsicht seiner Eltern auf, so muss er sich bald schon völlig allein durchschlagen: Er und seine beiden Geschwister Marty und Liz müssen weg aus ihrer Heimatstadt München und kommen in ein Internat, wo sie bald schon kaum noch etwas miteinander zu tun haben, weil jeder von ihnen seiner eigenen Wege geht.
Jules ist allein mit seiner Trauer, eckt bei seinen neuen Mitschülern an und kann keine Freundschaften knüpfen. Das Internat ist keine heile Welt à la Enid Blyton, sondern eher eine Verwahranstalt für Jugendliche, die niemanden haben, der sich um sie kümmern kann oder will. Seine Tage sind geprägt davon, nicht zu sehr aufzufallen und schnell wieder in seinem Zimmer zu sein – bis Alva sich eines Tages im Unterricht zu ihm setzt. Die beiden werden beste Freunde und knüpfen ein Band der Außenseiter. Über die gesamte Schulzeit hinweg wird sie zu seiner engsten Vertrauten. Dass Jules mehr für Alva empfindet, kann er weder sich selbst noch vor ihr eingestehen, und so trennen sich auch die Wege der beiden nach der Schulzeit wieder – begleitet und ausgelöst durch Missverständnisse und unausgesprochene Gefühle.
Da war eine Vertrautheit zwischen uns, die unendlich schien; wie zwei Spiegel, die einander spiegelten.
Als Jules mit Mitte vierzig einen Motorradunfall knapp überlebt, lässt er die Stationen seines Lebens noch einmal Revue passieren, versucht herauszufinden, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist, und vor allem, welche Möglichkeiten zu einem anderen Leben er zugunsten seines eigenen aufgegeben hat.
Vom Ende der Einsamkeit und vom Beginn der Verlustängste
Vom Ende der Einsamkeit erzählt melancholisch und einfühlsam von den verschiedensten Verlusten im Leben und davon, welches Risiko man eingeht, wenn man einen für sich wirklich wichtigen Menschen findet und liebt – nämlich, dass man ihn verliert und anschließend umso einsamer zurückbleibt. Auch das Konzept des ungelebten Lebens spielt in Benedict Wells‘ viertem Roman eine besondere Rolle: Hauptfigur Jules fragt sich immer wieder, was eigentlich die Essenz seines Lebens ist und was gleich geblieben wäre, wenn er die ein oder andere Abbiegung im Leben vielleicht doch genommen hätte.
Neben den wunderbar geschilderten sozialen Bindungen von Jules – zu seiner Großmutter, den früh verstorbenen Eltern und besonders zu den so unterschiedlichen Geschwistern – wird Wells‘ Roman auch immer wieder philosophisch, beispielsweise wenn Marty feststellt, dass es in der Diskussion darüber, ob es nun einen freien Wille gäbe oder nicht, eigentlich nur auf die eigene Einstellung zu der Frage ankomme.
Ganz besonders beeindruckt aber Vom Ende der Einsamkeit immer wieder, wenn nicht ausgesprochene Gefühle beschrieben werden, die den ganzen Roman hinweg wieder und wieder eine Rolle spielen. Hier zeigt Wells, dass er das ist, was er seiner Hauptfigur nachsagt: ein Beobachter und Bewahrer.
Wir schwiegen uns an. Die erste Aufregung des Wiedersehens war inzwischen verflogen, alles war so förmlich, so bemüht. Kurz kam es mir so vor, als wären unsere eigentlichen Ichs weit entfernt und wir hätten nur zwei Unterhändler in die Bar geschickt, die nicht befugt waren, über die wirklich wichtigen Dinge zu reden.
Vom Ende der Einsamkeit wurde mit dem Literaturpreis der Europäischen Union 2016 ausgezeichnet, der am 31. Mai 2016 verliehen wird. Wells wird oft mit John Irving verglichen (wahrscheinlich, weil er einmal gesagt hat, dass ihn dessen Romane zum Schreiben inspiriert haben), und tatsächlich erinnert die Beschreibung vor allem der Familien-Beziehungen manchmal an Das Hotel New Hampshire. Einen so rundum gelungenen, berührenden und nachhaltig melancholischen Roman habe ich jedoch von Irving schon lange nicht mehr gelesen.