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Weitlings Sommerfrische (Sten Nadolny)

von Yvonne
Weitlings Sommerfrische

Cover „Weitlings Sommerfrische“

Wenn man die Möglichkeit hätte, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen, welches Ziel würde man wählen? Wahrscheinlich würde man eher nicht in eine Zeit reisen, die man bereits erlebt hat, sondern zu einem Zeitpunkt, der bisher außerhalb der eigenen Möglichkeiten lag. Dabei könnte gerade eine Reise in die eigene Vergangenheit einem ganz neue Perspektiven auf die eigene Person und Persönlichkeit bieten – wie in Sten Nadolnys aktuellem Roman „Weitlings Sommerfrische“.

Wilhelm Weitling, Richter a. D., genießt seinen Ruhestand in seinem Ferienhaus am Chiemsee, plant die Arbeit an einem Buch und wartet auf seine Frau, die bald nachkommen wird. Obwohl er eigentlich nicht viel fürs Segeln übrig hat, verspürt er plötzlich Lust, einen Ausflug zu machen, und so will er die Zeit bis zur Ankunft seiner Frau überbrücken, indem er mit seinem Boot auf den Chiemsee fährt.

Doch das Wetter, das sich erst so einladend zeigte, schlägt bald um, und Weitling gerät in einen Sturm, der ihn über Bord gehen lässt und in dem er ums Überleben kämpft. Und noch während er versucht, nicht zu ertrinken, fällt ihm ein anderer Sturm, ein anderer Bootsunfall ein, bei dem er fast gestorben wäre. Dieser Unfall liegt mehr als fünfzig Jahre zurück und erklärt, dass Weitling seine Leidenschaft fürs Segeln verloren hat, bevor sie überhaupt richtig aufkommen konnte.



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Weitlings Sommerfrische: Ein Urlaub in der eigenen Vergangenheit

Die Erinnerungen scheinen nicht zufällig zu Weitling zurückzukehren, denn die beiden Unwetter und Unfälle sind nicht nur sehr ähnlich, sondern auch auf irgendeine Weise verbunden. Denn gerettet wird der Richter aus dem früheren Sturm, aus seinem ersten Unfall: Ganz offensichtlich ist er in seine eigene Vergangenheit gereist. Und begleitet als körperloser Beobachter sein jugendliches Ich auf seinem Weg zum Erwachsenwerden. Zwar hat er keine Erklärung für seine plötzliche Zeitreise, doch zunächst freut es ihn einfach, seine Erinnerungen aufzufrischen und aus leicht anderem Blickwinkel noch einmal zu erleben.

Dennoch wünscht Weitling sich natürlich, in seine eigene Zeit zurückzukehren – schließlich wartet seine Frau dort auf ihn, und er sorgt sich, dass ein längerer Aufenthalt in der Vergangenheit in seiner Gegenwart dazu führen wird, dass er den zweiten Unfall nicht überlebt. Doch es scheint keinen Weg zurück zu geben – und nach und nach ereignen sich Dinge, an die der Richter sich aus seiner Jugend nicht erinnert und die ganz offensichtlich entscheidenden Einfluss auf seine Entwicklung und den Lauf der Geschichte haben. Und irgendwann zeigt sich, dass „Weitlings Sommerfrische“ nicht die einzige ihrer Art ist.

 

Gedankenspiel über die Macht des Zufalls und die eigene Erinnerung

„Weitlings Sommerfrische“ gewährt einen ungewöhnlichen Blick auf die eigene Entwicklung aus einer reiferen Perspektive, ohne den oft verklärenden Blick, den Erinnerungen mit sich bringen. Da Weitling seine Jugend ein zweites Mal aus der Distanz erlebt, wundert er sich selbst darüber, wie er manche Dinge vergessen konnte oder wie die Gewichtung einzelner Ereignisse der eigenen Vergangenheit einer objektiveren Betrachtung nicht mehr standhält.

Ein wenig bleibt die Figur des Richter Weitling jedoch den ganzen Roman über auf Distanz, ist schwer zu fassen, und das, obwohl sich die Perspektive vom Zeitpunkt seiner Reise in die Vergangenheit an von der 3. in die 1. Person ändert. Dennoch bietet „Weitlings Sommerfrische“ ein spannendes Gedankenspiel über den Einfluss, den Zufälle auf die Entwicklung haben.

„Weitlings Sommerfrische“ stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.

Infos zum Buch

Weitlings Sommerfrische
Sten Nadolny
224 Seiten
Erstausgabe 2012


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