Meist wird Politik nicht von denen gemacht, deren Namen auf Jahrhunderte hin damit verbunden sind, sondern durch die „zweite Reihe“, durch Ratgeber, Befehlsausführer, Drahtzieher, Möglichmacher. Durch Menschen wie Thomas Cromwell. Cromwell, der in seinem Leben zu einem der engsten Vertrauten König Heinrich VIII. aufstieg, kam – für das 16. Jahrhundert nicht nur untypisch, sondern geradezu ein Skandal – aus einer armen Familie in Putney. Die Mutter früh gestorben, der Vater alkoholkranker Schmied, verließ Cromwell bereits als Jugendlicher sein Zuhause, schlug sich als Soldat und Tuchhändler durch, und schaffte es schließlich, als persönlicher Jurist in den Dienst von Kardinal Wolsey zu treten, der zu diesem Zeitpunkt ein wichtiger Berater des Königs und nach diesem der mächtigste Mann Englands war.
Auch wenn man nicht viel über englische Geschichte weiß, so ist einem Heinrich VIII. doch meist ein Begriff, vor allem in Bezug auf sein ausgiebiges und wechselhaftes Interesse am weiblichen Geschlecht. „Wölfe“ befasst sich auch damit, jedoch nicht aus Sicht des Königs oder der diversen Ehefrauen, sondern aus der Perspektive Cromwells, dessen Aufgabe es war, gegen den Willen der katholischen Kirche die Scheidung von Heinrichs erster Ehefrau Katharina von Aragon durchzusetzen, um die Ehe mit Anne Boleyn zu ermöglichen. Kardinal Wolsey war an dieser Aufgabe bereits gescheitert, und dessen Tod ermöglichte Cromwell den Aufstieg und sicherte ihm einen wichtigen Platz am Hofe des Königs und somit in der Geschichte Englands.
Der Weg, den Cromwell einschlug, um den Wunsch des Königs zu erfüllen, bedeutete die radikale Entmachtung der katholischen Kirche in England. Während ihn dies in der Geschichtsschreibung Englands sowie in zahlreichen Büchern und Filmen über Heinrich VIII. zu einem intriganten Manipulator macht, entwirft Mantel ein deutlich differenzierteres Bild von einem reflektierten Menschen mit Stärken und Schwächen, der es verstand, in einem Rudel adeliger Wölfe die Fäden zu ziehen. Sein größter Gegenspieler: Thomas Morus, der im 20. Jahrhundert von der katholischen Kirche heilig gesprochen wurde, von Mantel aber als machtgierig und selbstgerecht beschrieben wird.
Kein typischer historischer Roman
Im Zentrum von „Wölfe“ steht eine relativ kurze Zeitspanne im Leben Cromwells und in der Geschichte Englands, die aber einen wichtigen Grundstein für die nachfolgenden Ereignisse legte: Der (letztlich erfüllte) Wunsch, eine Scheidung durchzusetzen, führte zum Bruch mit dem Papst und zur Reform der Kirche in England, bei der Cromwell ebenfalls eine wichtige Rolle spielte.
Hilary Mantels „Wölfe“ hat zwar ein historisches Thema, ist aber in Wirklichkeit ein moderner Polit-Thriller. Es gibt keine ausufernden Beschreibungen königlicher Behausungen, keine gewollt verschnörkelte Sprache, sondern einfach eine auf wahren Tatsachen beruhende Geschichte über Macht und ihre Vergänglichkeit, die im 16. Jahrhundert angesiedelt ist. Der Cromwell, den Mantel in „Wölfe“ beschreibt, könnte genau so gut politischer Berater im 21. Jahrhundert sein – letzten Endes drehen sich all seine Aufgaben darum, Macht zu gewinnen und zu erhalten, für sich selbst und für andere. Besonders betont wird die Gegenwärtigkeit des Themas durch Hilary Mantels Stil: Der ganze Roman ist im Präsens geschrieben, und das so geschickt, dass es einem beim Lesen kaum auffällt.
Der vielfach ausgezeichnete Roman (Man Booker Prize 2009, Walter Scott Prize vor Historical Fiction, National Book Critics Circle Award) war außerdem der Beginn einer kleinen literarischen Sensation: Für die Fortsetzung „Falken“ („Bring up the Bodies“), den ich auch bald hier im Blog vorstellen werde, erhielt Mantel den Man Booker Prize 2012. Vor ihr wurden nur Peter Carey und Literatur-Nobelpreis-Träger J.M. Coetzee zwei Mal mit diesem wichtigen Literaturpreis ausgezeichnet. Dass zwei Bücher, die zusammen den Beginn einer Reihe darstellen, den Preis gewannen, ist noch nie vorgekommen.
Infos zum Buch
Wölfe
(Wolf Hall)
Hilary Mantel
768 Seiten
Erstausgabe 2012