Der Beweis ist der zweite Teil der Trilogie um ein Zwillingsbrüder-Paar von Ágota Kristóf, und wer den ersten Teil Das große Heft nicht gelesen bzw. die Verfilmung nicht gesehen hat, sollte das am besten nachholen, bevor er sich mit dieser Rezension um den uneingeschränkten Genuss bringt. Denn Der Beweis setzt genau dort an, wo Das große Heft aufhört, schafft es aber, auf die bereits erzählte Geschichte ein völlig neues Licht zu werfen.
Die Brüder, die im Vorgängerroman noch namenlos waren und bei ihrer Großmutter aufwachsen, um den 2. Weltkrieg überleben zu können, sind am Ende des Buchs junge Männer, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben trennen. Der eine nutzt eine Chance, über die Grenze zu gehen, der andere muss zurückbleiben, um sich um das Haus und den Garten zu kümmern, nachdem die Großmutter gestorben ist. Mit der Trennung kommen auch die Namen wieder. Der, der geblieben ist, heißt Lucas, der andere, der in ein anderes Leben gegangen ist, Claus. Auch aus der Geschichte ist Claus zunächst verschwunden und die Erzählung bleibt beim Daheimgebliebenen und damit in der ungarischen Grenzstadt.
Nachdem sein Bruder ihn verlassen hat, fällt Lucas in eine tiefe Depression. Er vernachlässigt Garten und Tiere und natürlich auch sich selbst. Ein Bauer, der ihn auf dem Markt erwartet hat, reißt den jungen Mann schließlich aus seiner Lethargie, und mit Pflichtbewusstsein und Sorgfalt begibt sich Lucas in sein neues, einsames Leben.
Zwar ist der Krieg vorüber, doch die Grausamkeiten bleiben, denn mit dem Frieden kommt das stalinistische Regime, Verhaftungen und Folterungen. Die Gewalt, die der Staat ausübt, findet auch im Privaten ihr Gegenstück, und ein Ergebnis davon hält Einzug in Lucas‘ Leben: Im Wald hinter seinem Haus trifft er auf Yasmine, die versucht, ein Baby im Fluss zu ertränken. Sie sieht keine andere Lösung für sich, denn das Kind stammt von ihrem eigenen Vater und dessen Frau wird Yasmine aus dem Haus werfen, wenn sie von der inzestuösen Beziehung erfährt. Lucas nimmt Mutter und Kind – Mathias -bei sich auf und ist vor allem darum bemüht, dem Jungen, der verwachsene Schultern hat und viel zu klein bleibt, ein guter Vater zu werden. Doch Mathias erkennt Lucas nicht an, sieht in ihm vor allem eine Bedrohung seiner eigenen Beziehung zu Yasmine und erweist sich trotz Lucas‘ Bemühungen und Liebe immer wieder als kalt und abweisend.
Vom Schreiben der eigenen Geschichte
Dieses Muster – die Ablehnung durch Menschen, denen er Liebe und Fürsorge entgegen bringt – zieht sich durch Lucas‘ einsames Leben, das geprägt ist durch die Suche nach einem Ersatz für seinen verlorenen Bruder Claus. Wie auch im ersten Teil der Trilogie spielt die Anpassung an nicht besonders positive Lebensumstände eine große Rolle – Lucas fügt sich in alles, was ihm das Schicksal vor die Nase knallt und reagiert darauf genau so, wie er es sich mit seinem Bruder beigebracht hat: Mit Gleichmut und dem Führen eines Tagebuchs. Darüber hinaus widmet sich Der Beweis der Verarbeitung der traumatischen Kriegserlebnisse, die es Lucas unmöglich machen, eine Verbindung einzugehen, wie er sie sich wünscht: nah, symbiotisch, wie mit einem Zwilling.
In der Erzählperspektive ist Der Beweis ein Stück „erwachsener“ als der erste Teil, wenn auch weiterhin kurze Sätze und kurze Kapitel dominieren. Doch die Erzählperspektive wechselt vom nichts hinterfragenden, emotionslos feststellenden „wir“ zur ebenso distanziert beobachtenden dritten Person. Die Suche nach Liebe und Verbindung, die Lucas den ganzen Roman hindurch antreibt, wird durch die emotionslose Schilderung noch dramatischer, weil der Stil des Romans bereits zeigt, wie aussichtslos diese Suche ist.
Zum Ende hin taucht auch Claus wieder auf. Sein Erscheinen ist mehr als nur eine Rückkehr an den Ort der Kindheit, sondern eine Aufdeckung verschütteter Erinnerungen. Auch Claus hat ein Trauma erlitten, und auch er bekämpft es durch das Schreiben eines Tagebuchs. Das, was er schreibt, krempelt alles um, gibt allem eine neue Deutung, und führt dazu, dass Der Beweis auch Das große Heft noch einmal völlig neu erfunden wird.
Wer den ersten Teil der Trilogie kennt, sollte auf jeden Fall auch die beiden Fortsetzungen lesen. Der Beweis ist gleichzeitig eine würdige Fortführung der Geschichte der Zwillingsbrüder, zudem eine eigenständige und für sich selbst schon sehr empfehlenswerte Erzählung. Darüber hinaus ergeben die beiden Bücher mehr als nur die Summe der einzelnen Teile, sondern schaffen durch das Licht, das das spätere auf das frühere wirft, eine dritte, überraschende und ein wenig verstörende Ebene.