Die dritte Lüge, nach Das große Heft und Der Beweis der letzte Band der Trilogie um die Zwillingsbrüder Lucas und Claus, beginnt genau dort, wo der Vorgänger-Roman aufgehört hat. Da die Geschichte mit jedem Band eine völlig neue Wendung nimmt, nicht einfach fortgeschrieben, sondern umgekrempelt wird, sollte man hier nicht weiterlesen, wenn man die beiden anderen Bände noch nicht kennt, aber kennenlernen möchte.
Zum Ende von Der Beweis kommt Lucas unter dem Namen Claus in den Ort seiner Kindheit zurück und muss sich seiner Lebenslüge stellen: Die Kindheit in der ungarischen Grenzstadt hat er allein bei seiner Großmutter verbracht, nicht mit seinem Zwillingsbruder, dessen Identität er mittlerweile angenommen hat. Im Ort erinnert sich niemand an zwei Jungen, und der Beweis, den Lucas vorlegt, um die Existenz seines Zwillingsbruders zu bezeugen, ist ein Lebensbericht voller unwahrer Details, den nicht etwa der Bruder sein Leben lang, sondern Lucas selbst wie im in einer einzigen Nacht verfasst hat. Der Bruder nur eine Einbildung, eine Hilfestellung, um das Trauma des Kriegs erträglich zu machen?
Lucas ist nun also zurück in seiner Heimatstadt und sucht seine Wurzeln, seinen Bruder und sogar seine Eltern, und es wird offenbar, was die Kindheitserinnerungen, die er im großen Heft aufgeschrieben hat, in Wahrheit sind: Der Umgang mit einem Trauma, das weit tiefer sitzt als der Krieg. Obwohl diese Erinnerungen brutal sind, kalt, erschreckend, sind sie im Vergleich zu Lucas‘ wahren Erlebnissen geschönt, und die größte Veränderung, die er vorgenommen hat, ist die, dass er seinen Bruder Claus in sie eingebettet hat.
Die dritte Lüge: Die dritte Erfindung der Geschichte
Die dritte Lüge widmet sich wie auch Der Beweis der Kern-Erzählung aus Das große Heft und gibt dieser Handlung zum zweiten Mal eine völlig neue Bedeutung. Immer größer wird das Trauma, immer tiefer die Schmerzen und immer verworrener (jedoch nicht verwirrender) werden die von Lucas selbst erfundenen Verstrickungen der Vergangenheit.
Man hat das Gefühl, dass die beiden Fortsetzungen nicht etwas an die erste Erzählung dranhängen, um sie fortzuführen, sondern dass stattdessen durch jeden weiteren Band ein Schleier von der ursprünglichen Geschichte genommen wird. Somit entfernt man sich gleichzeitig von der allerersten Deutung, nähert sich aber gleichzeitig dem eigentlichen Kern der Erzählung, dem eigentlichen Trauma. Dass dieser Kern da ist, wusste wahrscheinlich nicht einmal Ágota Kristóf, denn die beiden Fortsetzungsromane waren ursprünglich gar nicht geplant.
Die Erzählperspektive wechselt in jedem der drei Romane der Reihe. Während in Das große Heft die noch namenlosen Zwillinge stets gemeinsam im „Wir“ berichteten, war Der Beweis distanzierter und in der dritten Person geschrieben. Die dritte Lüge nun wird aus der Sicht von Lucas geschrieben, was seine Suche nach dem Bruder noch persönlicher und nahbarer macht.
Die dritte Lüge sowie die Trilogie, deren Ende dieser Roman ist, ist eine berührende und verstörende Auseinandersetzung mit dem Krieg, mit Kindheitstraumata sowie mit dem normalen Umgang damit: Verdrängen und Vergessen. Darüber hinaus sind die drei Bände ein literarisches Kunststück, weil die einzelnen Teile ineinander greifen, einander widersprechen und doch gemeinsam weitaus mehr sind als einfach eine Geschichte in drei Bänden, viel eher eine Geschichte in drei Blickwinkeln, in drei Entfernungen zur Wahrheit. Ein absolut besonderes und einmaliges Lese-Erlebnis und eine uneingeschränkte Empfehlung.