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Nichts mehr als die Vergangenheit

von Yvonne

A happy man has no past, while an unhappy man has nothing else.

Misst man Dorrigo Evans an den Gedanken, um die er sich dreht, so ist er definitiv ein sehr unglücklicher Mann. Denn obwohl er ein in ganz Australien bekannter und gefeierter Kriegsheld und Buchautor, gern gesehener Redner und Arzt ist, obwohl seine Ehe nach außen hin perfekt wirkt und die Frauen ihm so sehr zufliegen, dass es nach innen zur echten Belastung wird, hängt Dorrigo in der Vergangenheit fest, an zwei Menschen, die er als junger Mann kannte und die er auch mit mehr als 90 Jahren nicht vergessen kann.

Nicht viel älter als 20, gerade das Medizin-Studium abgeschlossen und mehr oder weniger, wenn auch nicht offiziell, mit seiner Angebeteten Ella verlobt, ereilt Dorrigo Evans Anfang der 1940er Jahre das Schicksal gleich zwei Mal. Das erste Mal trifft ihn die Liebe, die wahre, die einzige, in Form von Amy, der er in einer Buchhandlung begegnet und die er unerwartet, unverhofft und unwahrscheinlicherweise wiedersieht. Amy ist wie Dorrigo bereits vergeben, und so leben sie ihre tiefe Zuneigung und unmittelbare Anziehung heimlich aus.

Doch es dauert nicht lange, bis das Schicksal sich ein zweites Mal rührt und diese Liebe unmöglich macht. Dorrigo wird zum Kriegsdienst einberufen und gerät sehr bald in japanische Kriegsgefangenschaft. Dort wird er mit etwa 1.000 weiteren Australiern für den Bau einer Eisenbahnlinie in Siam eingesetzt. Die Linie ist ein Prestige-Objekt der japanischen Regierung, da die Engländer wenige Jahre zuvor gesagt haben, dass der Bau unmöglich sei. Entsprechend wird nun alles daran gesetzt, dem Feind zu zeigen, dass man ihn auch im Bau von Eisenbahnlinien besiegen kann – was bedeutet, dass die Kriegsgefangenen geschunden, brutal geschlagen und ausgehungert werden, um dem japanischen Kaiserreich zu dienen. Dorrigo scheint Glück zu haben.

Als Arzt und Colonel bleibt ihm die eigentliche Zwangsarbeit erspart, doch als höchstrangiger Gefangener wird er zum Bindeglied zwischen japanischen und koreanischen Wärtern und den australischen Arbeitern. Dabei wird der junge Mann sehr schnell erwachsen, denn das Leid, dass er nicht verhindern kann, an dessen Allokation er manchmal sogar aktiv teilhaben muss, um Schlimmeres zu verhindern, lässt ihn nie wieder los. Ein Soldat, dessen Schicksal sich ganz besonders tief in Dorrigos Gedächtnis eingegraben hat, ist Darky Gardiner, und dessen Leidensweg nachzuzeichnen und aufzuarbeiten, wird eine der schwierigsten Aufgaben in Dorrigos Leben.

Der schmale Pfad durchs Hinterland: Krieg herunter gebrochen auf das Einzelschicksal

Richard Flanagans aktueller Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland zeigt den Krieg als das, was er ist: Eine Verflechtung von individuellen Entscheidungen, die auf unterschiedlicher Sozialisierung basieren, gerechtfertigt durch ein Weltverständnis, das es nicht erlaubt, falsch zu parken, aber Krieg duldet, so lange er sich an vorgegebene Regeln hält.

He thought of how the world organizes its affairs so that civilization every day commits crimes for which any individual would be imprisoned for life.

Dabei sucht er sich aus dem großen Krieg des letzten Jahrhunderts gerade zwei der weniger beschriebenen Akteure aus: Australien und Japan. In nicht chronologischer Reihenfolge erzählt Der schmale Pfad durchs Hinterland die Geschichte von Dorrigo Evans, lässt aber auch die Sichtweisen anderer Figuren einfließen, so dass vor allem ein umfassendes Bild der sehr unterschiedlichen Weltanschauung der Australier und Japaner entsteht.

Während Dorrigo versucht, möglichst viele seiner Männer durchzubringen, an das Mitgefühl der Japaner appelliert und die Soldaten zum Überleben motiviert, ist schon allein die Tatsache, dass die Australier Kriegsgefangene sind, für die Japaner Grund genug, sie nicht mehr wie Menschen zu behandeln. Denn schließlich haben sie es vorgezogen, zu kapitulieren, anstatt zu sterben, etwas, das dem japanischen Ehrgefühl so sehr widerspricht, dass Hiroshima allein nicht ausreichte, um den Krieg zu beenden. Am Ende bleibt sowohl auf australischer als auch auf japanischer Seite eine um ihre Möglichkeiten, ihre Chancen und damit um ihr Leben betrogene Generation, und der Krieg hat nichts gemacht als Leben zu nehmen und Leben zu zerstören. Entscheidungen, die getroffen werden – von einem oder für einen – lassen am Ende keine Möglichkeit mehr zu, als zu erdulden, was die Welt ergeben hat.

[…] and Dorrigo was first among them, the one who had arrived too late and done too little and now somehow agreed with what was happening.

Neben den historischen Einblicken und gesellschaftlichen Zusammenhängen ist Der schmale Pfad durchs Hinterland auch sprachlich besonders hervorzuheben. Japanische Todes-Gedichte – Gedichte, die von japanischen Schriftstellern und Dichtern kurz vor ihrem Tod als ihr letztes Gedicht verfasst werden – sowie Haikus spielen eine wichtige Rolle im Roman und in Dorrigo Evans‘ Leben, denn oft verdichten sie die erschütterndsten Momente auf einen ernüchternden Punkt. Gerade die Haikus, die nur 17 Silben lang sind und immer über ein Natur-Element verfügen, scheinen dafür besonders geeignet. Doch auch das einleitende Paul Celan-Zitat „Mutter, sie schreiben Gedichte.“ weist bereits auf die große Divergenz zwischen gelebter und gefühlter Kultur und freigesetzter Brutalität und Un-Menschlichkeit.

Weil es immer Verbindungen zwischen einzelnen Menschen sind, die dem Glück oder dem Grauen zu Grunde liegen, ist Der schmale Pfad durchs Hinterland voller Sätze, die zwischenmenschliche Beziehungen genauestens auf den Punkt bringen und die man immer wieder lesen möchte.

Maybe he doesn’t really think it now. But sometimes things are said and they’re not just words. They are everything that one person thinks of another in a sentence.

Ein paar der Zufälle, die die Handlung von Der schmale Pfad durchs Hinterland vorantreiben, wirken auf den ersten Blick zu unwahrscheinlich und auch einfach zu viel des Guten, doch unterstreichen sie nur die Aussage des Buchs, dass es das Zusammenlaufen vieler einzelner Fäden ist, das das Schicksal des Einzelnen und genau so auch das der Welt bestimmt. Und genau wie in einem Gedicht werden die einzelnen Handlungsfäden komponiert, arrangiert und am Ende so zusammen gefügt, dass ein – absolut beeindruckendes – Gesamtkunstwerk entsteht. Schließlich stammt auch der Titel Der schmale Pfad durchs Hinterland aus der japanischen Literatur und bezieht sich auf das Reisetagebuch Oku no Hosomichi („Auf schmalen Pfaden ins Hinterland“) des japanischen Dichters Matsuo Basho, in dem dieser seine Wanderung in die nord-japanische Provinz Mutsu (früher Michi-no-oku) schildert.

Dass Der schmale Pfad durchs Hinterland auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2014 steht, hat mich erst dazu gebracht, den Roman zu lesen, wundert aber in keinster Weise. Dieser vielschichtige, tiefe und zutiefst berührende Antikriegsroman ist einer der besten, bewegendsten und erschütterndsten Romane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Für den Man Booker Prize drücke ich definitiv die Daumen.

Nachtrag: Das Daumen-Drücken scheint geholfen zu haben. Richard Flanagan wurde mit dem Man Booker Prize 2014 ausgezeichnet.

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2 Kommentare

Der Erzähler (Richard Flanagan): Die Welt ein Ponzi Scheme - 14. Dezember 2018 - 21:17

[…] Autor aus Tasmanien und mittlerweile Man Booker Prize-Träger für seinen wunderbaren Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland, erledigte Auftragsarbeiten, bevor er zu einem der wichtigsten australischen Autoren der Gegenwart […]

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Der Erzähler (Richard Flanagan): Der Erzähler von Richard Flanagan - 7. März 2019 - 19:26

[…] Autor aus Tasmanien und mittlerweile Man Booker Prize-Träger für seinen wunderbaren Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland, erledigte Auftragsarbeiten, bevor er zu einem der wichtigsten australischen Autoren der Gegenwart […]

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