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Mit der Ich-Maschine in Manhattan

von Yvonne

Dr. Paul C. O’Rourke hat in seinem Leben einiges erreicht, von dem andere nur träumen können: Er betreibt eine gut laufende Zahnarzt-Praxis auf der Park Avenue in Manhattan, hat drei Angestellte, die ihm helfen, den Betrieb am Laufen zu halten, und verdient dank Zahnseide-resistenter Patienten jede Menge Geld. Selbst seine Begeisterung für die Red Sox bringt ihm neuerdings ein bisschen Freude, seit die jahrzehntelange Underdog-Mannschaft auf dem Vormarsch ist.

Privat läuft es allerdings nicht so gut für O’Rourke, denn ihm fehlt der Anschluss in jegliche Richtung. Sein Vater ist tot, die Mutter dement und lebt im Altenheim. Eine Freundin hat er auch nicht mehr, seit seine Empfangsdame Connie ihm den Laufpass gegeben hat. Überhaupt läuft es mit den Frauen nicht so, wie er sich das wünscht, was vielleicht auch an seinem Hang zum Klammern liegt, was schon nach der Trennung von seiner ersten Freundin Heather Beslisle zu Tage trat:

Ich tat, was wohl jeder in dieser Situation gemacht hätte. Ich lief die zwölf Meilen zu Fuß zum Einkaufszentrum, versteckte mich dort im unabgeschlossenen Wagen der Belisles, fuhr mit meiner nichtsahnenden Begleitperson noch ein paar Meilen weiter bis zu Heather, wo ich erst in der Garage ausharrte, später ins Haus eindrang, in einem Wandschrank masturbierte, daraufhin einschlief und am nächsten Morgen die Familie fröhlich am Frühstückstisch überraschte.

Doch davon abgesehen, dass er nicht so gut über seine Verflossenen hinwegkommt und – nennen wir’s beim Namen – den Trennungsschmerz mit Stalken bekämpft, sucht Paul O’Rourke vor allem eins: Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die er auch oft durch die Religiosität der Familien seiner Freundinnen zu finden glaubte. Dass O’Rourke bekennender Atheist ist, hindert ihn nicht daran, davon zu träumen, zu einer streng katholischen oder einer jüdischen Familie zu gehören. Doch dieses Glück scheint ihm nicht vergönnt.

Allerdings hat Paul bald auch schon ganz andere Sorgen, denn eine Webseite seiner Praxis erscheint im Netz, die er jedoch weder beauftragt noch erstellt hat. Irgendjemand macht sich seine Identität zu eigen und postet – bald auch über Twitter und Facebook – ziemlich krudes Zeug über eine religiöse Volksgemeinschaft der Zweifler, die sich selbst Ulms nennen und denen angeblich auch Paul selbst abstammungsseitig angehört. Geht es ihm anfangs noch ausschließlich darum, die oft schon grenzwertigen Äußerungen in seinem Namen wieder aus dem Internet zu entfernen, beginnt er nach und nach doch zu überlegen, ob nicht vielleicht etwas dran ist an der Geschichte mit den Ulms – denn schließlich wäre es ja auch nett, irgendwo dazu zu gehören. Und er beginnt einen regen Mail-Wechsel mit diesem anderen, der sich als Paul C. O’Rourke ausgibt – also quasi mit sich selbst.

Du bist ein voll entwickelter Mensch der Jetztzeit, dem die schlichten Verheißungen des amerikanischen Traums nicht mehr genügen, soll heißen soziale Mobilität und sinnfreier materieller Erfolg, und der auf der Suche ist nach dem wahren Sinn des Lebens.

Moderner Mensch ohne Orientierung in Mein fremdes Leben

Mein fremdes Leben erzählt ironisch, humor- aber auch immer liebevoll von der Suche eines absolut modernen Menschen unserer Zeit nach ein bisschen Sinn und ein bisschen Selbst. Joshua Ferris beobachtet dabei hervorragend die kleinen Details, die unser Leben ausmachen und die man so auch an sich und seinen Mitmenschen feststellen kann: Vom reflexhaften Hände-Eincremen im Büro über die Sucht, alles und jeden direkt im Smartphone nachzuschlagen bis hin zum dringenden Wunsch, zu einer Randgruppe gehören zu wollen, um auch mal auf sein Recht pochen zu dürfen – in Mein fremdes Leben entsteht ein absolut authentisches Bild der westlichen Welt, die so wenige Probleme hat, dass sie sich selbst welche schafft, indem sie individuell und doch irgendwie nach sich selbst sucht. Dabei erzählt Ferris zwar augenzwinkernd und lässt seine Figuren auch mal absurdes tun, bleibt aber stets nachsichtig und verständnisvoll für die Sorgen des um sich selbst kreisenden und dabei nach Zugehörigkeit lechzenden Dr. O’Rourke. Dabei stellt Mein fremdes Leben immer wieder die schöne und aktuelle Frage, was man eigentlich noch will, wenn man alles, was man aus Gesellschaftssicht erreichen sollte, erreicht hat.

Mein fremdes Leben steht auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2014 und ist vergangene Woche auf Deutsch im Luchterhand Verlag erschienen.

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