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Die verlorene Ehre der „Puppe“

von Yvonne

Sydney, im Sommer 2007. Die Welt hat noch die Anschläge von New York, Madrid und Bali vor Augen. Entsprechend panisch reagiert man bei ersten Anzeichen von Terror. Und die ersten Anzeichen müssen gar nicht groß sein. Eine Burka, ein etwas dunklerer Teint, arabische Sprachfetzen reichen, um aus einem Passanten jemand Verdächtigen zu machen. Die Medien springen natürlich auf den Zug auf und schüren Ängste, wo gar keine nötig sind.

Auch Gina Davies, genannt „die Puppe“, blickt skeptisch auf jeden, der ihre friedliche Heimatstadt bedrohen könnte. Nachts jobbt die Puppe in der Chairman Lounge, einem besonders exklusiven Strip-Club.

Tagsüber gibt sie einen Teil ihres Gelds für Designer-Klamotten und -Taschen aus und spart den Rest, um sich irgendwann eine Eigentumswohnung und damit einen Ausstieg aus ihrer tristen Existenz leisten zu können.

Ansonsten liest sie dieselben Zeitungen, schaut dieselben Magazine wie der Rest des Landes, und hält sich selbst für eine Realistin.

Die Realität wird nie von Realisten gemacht, sondern von Träumern wie Jesus und Nietzsche.

[…]
Denn im Gegensatz zu Jesus und Nietzsche war die Puppe keine Träumerin. Sie selbst hätte sich eine Realistin genannt. Realismus bedeutet, die Enttäuschung bereitwillig anzunehmen, um nicht mehr enttäuscht zu sein.

Auch Richard Cody würde sich sicher als Realisten bezeichnen. Der einstige Medien-Star erhält die ernüchternde Nachricht, dass er als Außen-Reporter ins Nachtprogramm versetzt wird. Für seine Karriere bedeutet das den Todesstoß. Dabei versteht Richard Cody es wie kein anderer, den Zuschauern seiner Sendung das zu liefern, was sie sich so sehnsüchtig wünschen: Drama.

Es ging hier um Klatsch, der Wissen in Geld und Einfluss verwandelt, um das raffinierte Sondieren von Haltung und Status, um die verhohlene Suche nach Verbündeten und die Bildung von Seilschaften. Das ständige Aufplustern gehörte dazu wie das Gebrüll zur Balz der See-Elefanten.

Die unbekannte Terroristin könnte jeder sein.

Das Leben der Puppe ändert sich schlagartig, als sie Tariq kennenlernt. Zum ersten Mal trifft sie ihn am Strand, wo er Max, den Sohn ihrer besten Freundin Wilder, vor dem Ertrinken rettet. Kurz küssen sich Tariq und die Puppe im Meer, doch dann verlieren sie sich wieder aus den Augen.

Abends begegnen die beiden sich wieder. Im Taumel des Mardi Gras ist schnell klar, dass sie die Nacht miteinander verbringen werden. Die Puppe begleitet Tariq in seine überaus schicke Wohnung und bleibt gleich dort. Am nächsten Morgen jedoch ist Tariq verschwunden, und die Puppe ahnt noch nicht, was das für sie bedeuten wird.

Im Laufe des Tages sieht sie auf den in der Stadt allgegenwärtigen Großleinwänden zunächst Hinweise auf einen Terroranschlag: Es sind Bomben gefunden worden, versteckt in einem Kinderrucksack. Als zu diesen Bildern Fotos von Sondereinsatz-Kommandos vor Tariqs Wohnhaus kommen, denkt die Puppe sich noch nichts. Erst als Bilder einer Überwachungskamera gezeigt werden, die sie mit Tariq zeigen, ahnt Gina, dass diese eine Nacht nicht ohne Folgen bleiben wird.

Richard Cody, der selbst regelmäßig in der Chairman Lounge verkehrt, hat die Puppe nämlich erkannt und wittert seine Chance auf ein Comeback. Und tatsächlich bietet der Sender-Chef ihm für sein Thema eine Sonder-Sendung an. Titel: Die unbekannte Terroristin. Die Jagd auf Gina hat begonnen.

„Aber ein Gutes hat die Sache“, sagte die Puppe und löste sich aus Wilders Griff, „ich weiß jetzt, wie es läuft im Leben. Die Menschen sind weder gut noch schlecht, Wilder, sie sind einfach nur schwach.“

Eine Stadt jagt die unbekannte Terroristin

Die unbekannte Terroristin handelt von einer durch Medien geprägten Welt, die gerne glaubt, was sie liest, und nicht ganz so gerne selbst denkt. Die Menschen, die Gina nur zu gerne vorverurteilen, wollen gar keine Wahrheit, sondern ein bisschen Drama als Ausgleich zur täglichen Langeweile. Jeder ist eher gewillt, die unwahrscheinliche, aber gruselige Geschichte Richard Codys zu glauben, als das eigene Denken einzuschalten und Zweifel an der allzu bequemen und so schön spannenden Story zuzulassen. Am Ende ist es egal, auf wessen Seite Gina steht. So lange sie nicht auf der Seite der Story steht, hat sie die Welt zum Feind. Und natürlich fällt einem beim Lesen Baudelaire ein. „Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile.“ Mehr will der moderne Mensch ja meist gar nicht.

Natürlich erinnert Die unbekannte Terroristin hierin und in der Darstellung der sensationsgierigen und nicht allzu wahrheitsliebenden Medien an Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Und hier wie dort sind die Medien nichts ohne ein ebenso sensationslüsternes Publikum, das gar nicht so richtig an der Wahrheit interessiert ist. Die lose nebeneinanderstehenden Fakten – der Bombenfund, ein reicher Araber, eine Australierin, die ihn begleitet – werden durch viel Phantasie zu einer äußerst nützlichen Geschichte verbunden – für die Medien ebenso wie für die Politik. Und so ist Die unbekannte Terroristin auch ein Lehrstück darüber, wie Polemik und Stimmungsmache funktionieren: Eben nicht über Fakten, sondern über möglichst schlimme Geschichten, egal, ob wahr oder nicht.

„Die Leute sind dumm. Wir leben im Zeitalter der K.-o.-Tropfen, Tony. Die Leute können sich an nichts erinnern. Sie haben nur das vage Gefühl, dass irgendwas Böses im Anmarsch ist. Wenn sie keine Angst haben, entziehen sie uns die Zustimmung für alles, was wir tun und was wir sind.“

Die Gegenwart als Dystopie

Die Stadt, in der die Puppe lebt, ist auch ohne Terror geprägt von Hass und Oberflächlichkeit. Wo man hinsieht gibt es Werbung für die großen amerikanischen oder europäischen Marken. Hebt man seinen Blick nicht zu den Werbetafeln, sondern lässt ihn in den Straßen Sydneys, so entdeckt man Gewalt gegen die, die am Rande stehen, seien es Ausländer, alte Menschen oder Obdachlose.

So lange Gina noch die Puppe und nicht die unbekannte Terroristin ist, lebt sie damit. Als sie schließlich selbst an den Rand gedrängt wird (von dem sie ohnehin nie weit entfernt war), erkennt sie, was sie lange Zeit nicht nur geduldet, sondern aktiv unterstützt hat.

Hinter ihr ging es noch eine Weile so weiter, sie traten auf den Mann ein, als wäre er allein verantwortlich für diese triste tote Dekade, in der sie alle leben mussten, ein Sack voll Scheiße, der einmal ein Mensch gewesen war, an einem Ort, der einmal eine Gemeinschaft gewesen war, in einem Land, das einmal eine Gesellschaft gewesen war.

Spätestens, als Wilder verhört und mit fünf Jahren Gefängnis für egal welches Verhalten bedroht wird, fühlt man sich in Die unbekannte Terroristin wie in einer Dystopie, nur eben, dass sie schon jetzt passiert bzw. längst passiert ist. Und gerade das macht Die unbekannte Terroristin gleichzeitig beängstigend, spannend und unglaublich lesenswert.

Sie fühlte, was sie fühlen wollte. Nichts.

Richard Flanagan ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Autoren Australiens. Mit Der schmale Pfad durchs Hinterland gewann er 2014 den Man Booker Prize. Die unbekannte Terroristin entstand bereits 2007, wurde aber 2016 erstmalig in deutscher Sprache veröffentlicht.

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