Noch vor wenigen Jahren hieß das, was heute klinisch kalt und analytisch distanziert als bipolare Störung bezeichnet wird, viel greifbarer und auch drastischer manisch-depressive Erkrankung. Der Erkrankte durchläuft Phasen überzogener Hochstimmung in allen Lebensbereichen, die auch leicht in Überreiztheit und Paranoia umschlagen können. Darauf folgt immer eine Depression. Im Grunde hat man zwei Krankheiten zum Preis von einer. Dabei machen die manischen Episoden mit all ihren negativen sozialen Folgen die anschließende depressive Phase umso schlimmer.
Der Schriftsteller Thomas Melle leidet an einer besonders stark ausgeprägten Form der manisch-depressiven Störung. Die drei Krankheitsepisoden, die er bisher erlebt hat, zogen sich über Jahre hin und wurden immer ausgeprägter. In Die Welt im Rücken schildert er den Verlauf seiner Krankheit und die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen auf sein Leben.
Die Welt im Rücken, zu Füßen und auf den Schultern
Mit Anfang 20 erlebt Thomas Melle seine erste manische Episode, in der er sich fühlt wie der Mittelpunkt der Welt. Getriggert durch die aktive Teilnahme in einem Internet-Forum findet er bald überall Zeichen, dass sich alles und jeder nur um ihn dreht. Die Welt hat auf ihn gewartet und jetzt ist er da. Seine Paranoia lässt ihn seine ganz persönliche Verschwörungstheorie durchleben, die ihm Sinn und Richtung gibt. Und natürlich darf er die Wahrheit auf keinen Fall auffliegen lassen.
Ich rief bei den verschiedensten Leuten an – damals fand man die meisten Nummern noch einfach im Telefonbuch -, hinterließ kodierte Nachrichten und dekodierte die paar geführten Dialoge in mein paranoides Bezugsnetz zurück, ging dann mit den neuen Hinweisen im Hinterkopf in die Stadt wie eine Gamefigur, jumpte von Level zu Level, sammelte irgendwelche Dinge auf, eilte nach Hause und telefonierte wieder los.
In Sätzen, die selbst an manische Episoden erinnern, erzählt Melle von seinem ersten manischen Hoch. In Wahrheit erlebt er nur den Anlauf für den vollständigen Absturz. Denn mit jeder seiner absurden Aktionen, die die Wahnvorstellungen in ihm auslösen, verbrennt er ein Stück Erde in seinem sozialen Umfeld. Die Krankheit lässt ihn dies nicht erkennen, sondern gibt ihm sogar das Gefühl, dass die Reaktionen seiner Umwelt Teil der großen Verschwörung sind. Damit verschafft die Krankheit ihm Erlösung von Selbstzweifeln, weil sie ihm eine Begründung für alles in seinem Leben liefert.
Ein fast schon tragischer Bonus der Krankheit ist in meinem Falle, dass so vieles plötzlich erklärbar schien: die Verstocktheit der Leute, die Hemmungen auf beiden Seiten, die Unschärfen, die Affronts. Meine Beziehungen zu anderen Menschen waren vorher derart verkeilt gewesen, meine Grundkonstitution so einsam, dass mit den neuen, kranken Rahmendaten endlich verständlich wurde, was schieflief.
Nach dem Höhenflug folgt der Absturz
Während Melles Krankheit unwissentlich und unkontrolliert sein Leben zerstört, bahnt sich bereits der große Knall an. Denn auf jede manische Episode folgt unweigerlich der Fall in die Depression. Der Titel Die Welt im Rücken lässt sich genau so doppeldeutig lesen wie die bipolare Störung sich äußert. Während der Manie scheint die Welt Melle zu unterstützen und hochleben zu lassen. In der Depression steht sie ebenfalls hinter ihm, allerdings nicht jubelnd, sondern mit dem gezückten Messer in der Hand.
Über Depressionen sind schon etliche persönliche Berichte geschrieben worden. So nahbar, so nachvollziehbar und miterlebbar hat jedoch selten jemand von seinem stetigen Rutschen in Richtung Selbstauslöschung berichtet. Die zuvor durchlebte manische Phase macht die Depression umso schlimmer. Denn Teil von Melles depressiven Gedanken ist immer all das, was er zuvor angerichtet hat im Glauben, dass die Welt sich nur um ihn dreht.
Die Tage verstreichen langsam und quälend. Die Depression ist keine Fühllosigkeit, wie ich dachte, sondern eine ständige Demütigung, ein scharfer, steter Schmerz, eine Haltlosigkeit und Trauer. Ich schließe die Augen und denke: Das darf nicht wahr sein. Ich öffne die Augen, und nichts ist anders.
Existenzbedrohende Folgen der Erkrankung
Zu den ganz direkten Problemen der Krankheit und den dadurch verursachten sozialen Schwierigkeiten, kommen bald auch existenzielle Nöte. Denn die Überzeugung, dass er der Messias der Welt ist, brachte einen sorglosen und verschwenderischen Lebensstil mit sich. Das böse Erwachen kommt, als klar wird, dass die Schulden, die er angehäuft hat, ernsthafte Konsequenzen werden.
Sie hatten keine Probleme, nahmen sie aber sehr ernst.
Da war ich lange Zeit das genaue Gegenteil gewesen.
Die Probleme werden größer, das Empfinden darüber immer schlimmer. Wie grundlegend beispielsweise ein fester Wohnsitz für eigentlich alles ist, wird einem wohl erst klar, wenn dieser bedroht ist. Zu diesem Zeitpunkt hat Melles Leben bereits Züge angenommen, die die meisten von uns nie zu Gesicht bekommen. Freunde haben entweder längst Abstand von ihm genommen oder versuchen wieder und wieder, ihn in Experten-Hände zu geben. Diverse Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken folgen, die zwar Sicherheit bieten, das Gefühl der Depression, der Hoffnungslosigkeit, der Entfremdung von sich selbst und der Welt jedoch nur verstärken.
Die Tage fingen mit einer Verneinung an und endeten mit einer Kapitulation.
Drei manisch-depressive Episoden mit dazwischen liegenden Phasen der Normalität – oder des Aufräumens nach dem Sturm – hat Melle durchstanden. Die Welt im Rücken ist nach der dritten Episode entstanden, das Damokles-Schwert einer weiteren Phase immer über dem Autor. Denn ob die Krankheit irgendwann geheilt ist, verschwunden sogar, lässt sich nie mit Sicherheit sagen.
Kreislauf psychische Krankheit
Ich weiß nicht, ob ich Die Welt im Rücken überhaupt gelesen hätte, wenn ich nicht vor zwei Jahren völlig fasziniert von Melles 3000 Euro gewesen wäre. Mich interessiert normalerweise mehr, welche Geschichten ein Schriftsteller zu erzählen hat, als das, was er selbst erlebt hat.
Die Welt im Rücken ist jedoch ein grandioses Beispiel dafür, welche Geschichten ein Schriftsteller über sich selbst zu erzählen haben kann. Und auch wenn Melle absolut offen und persönlich ist in seinem Bericht, so ist das Buch am Ende eben doch keine Autobiographie. Denn Melle erzählt zwar an Hand seines eigenen Beispiels (und verschont sich dabei nie), hat den Scheinwerfer dabei jedoch nicht auf sich selbst, sondern auf seine Krankheit gerichtet.
Dass diese Krankheit vielen Missverständnissen oder gar Unverständnis unterworfen ist, thematisiert Melle ebenfalls. Das von den Medien entworfene Bild irgendwo zwischen aggressivem Verrückten und wahnsinnigem Genie (oder gar liebenswerter Skurrilität) stimmt so eben nicht.
Obwohl psychische Krankheiten, allen voran die Depression, viel mediale Aufmerksamkeit erhalten, ist die allgemeine Beurteilung eine andere als bei körperlichen Erkrankungen. Nur in wenigen Ausnahmen spielt bei körperlichen Krankheiten die Diskussion um Schuld eine Rolle. Selbst wenn dies der Fall ist, steckt meist eher eine Stigmatisierung von Verhaltensweisen dahinter, die gesellschaftlich zur Ausgrenzung genutzt werden, wie bei Aids, Lungenkrebs oder Diabetes.
Den psychisch Kranken aber betrachtet man mit Argwohn. Die Symptome seiner Krankheit sind sein Verhalten. Und da kommt man wohl nicht umhin, als das sozial anerzogene „Warum?“ zu fragen. Denn die Lösung für all die langfristigen Probleme, die die Krankheit mit sich bringt, scheint so einfach: Man muss sich doch nur ein bisschen zusammenreißen. Das ist allerdings genau so absurd, wie jemandem zu sagen, er solle mal mit diesem blöden Gehirntumor aufhören, weil der ja doch nur schadet.
Eine Krankheit ist eben auch deswegen eine Krankheit, weil sie sich der Kontrolle des Erkrankten entzieht. So deutlich, so offen und nachvollziehbar habe ich dies vor Die Welt im Rücken noch nie gelesen.
Mit absoluter Offenheit über die eigene Erkrankung
Die Welt im Rücken war nominiert für den Deutschen Buchpreis 2016 (Shortlist). Damit schaffte es bereits zum dritten Mal ein Buch von Melle auf die Longlist. Dieser wunderbaren, aufrüttelnden, persönlichen Einsicht in eine noch viel zu oft missverstandene Krankheit ist noch viel mehr zu wünschen. Definitiv mindestens die Shortlist, vor allem aber sehr viel Aufmerksamkeit für das in ihr beschriebene Thema Bipolarität.
2 Kommentare
[…] Mag sein, dass das auch im autobiographischen Erzählen vorkommt (zum Beispiel bei Thomas Melles Die Welt im Rücken). Ein richtig guter Schriftsteller schafft es jedoch, aus dem, was er selbst erlebt hat, […]
[…] Mag sein, dass das auch im autobiographischen Erzählen vorkommt (zum Beispiel bei Thomas Melles Die Welt im Rücken). Ein richtig guter Schriftsteller schafft es jedoch, aus dem, was er selbst erlebt hat, […]