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Warum gerade Mädchen?

von Yvonne

Die 1960er und 1970er Jahre rufen noch heute Bilder von Freiheit, Aufbruch und einer sich von ihren Vorfahren emanzipierenden Jugend hervor. Die Welt wurde – vor allem in den USA – ein Stück freier, sorgloser und selbstbestimmter. Das Ganze ging einher mit einem übersteigerten Individualismus, der teilweise zur Egozentrik wurde.

Dass an der Schnittmenge von Regellosigkeit und Persönlichkeitskult Sekten blühten, verwundert im Nachhinein nicht. Dennoch schockiert auch heute noch, was 1969 geschah. Die Manson Family drang scheinbar wahllos in die Häuser Reicher ein und tötete jeden, der vor Ort war. Die Welt war schockiert, als sie erfuhr, dass drei junge Frauen aus der amerikanischen Mittelschicht Menschen bestialisch erstochen hatten.

Emma Clines Roman The Girls orientiert sich an den Geschehnissen rund um die Manson Family, ändert jedoch dankenswerter Weise die Rahmenbedingungen. Sektenführer Russell Hadrick hat musikalische Ambitionen und schart wie auch Manson vor allem Mädchen um die 20 um sich. Doch anders, als man das vielleicht nach der medialen Berichterstattung über The Girls erwartet, geht es in dem Roman weniger um Manson und die Morde, sondern vor allem um die titelgebenden Mädchen.

The Girls: Orientierungslose Mädchen und dankbare Anhänger

Im Rückblick erzählt Evie Boyd von ihrer Zeit Ende der 1960er mit den Mädchen von Russells Farm. Die damals 14jährige hatte nach der Scheidung der Eltern Probleme zu Hause. Als die beste Freundin sie versetzt und ihr Schwarm mit einer anderen abhaut, macht die Haltlosigkeit sie leicht beeindruckbar.

Ich hatte diesen dümmlichen Wesenszug von Mädchen im Teenager-Alter vergessen: Der Wunsch nach Liebe war ihrem Gesicht so unmittelbar anzumerken, dass es mir peinlich war.

Evie sehnt sich nach Liebe und Anerkennung und fühlt sich gleichzeitig völlig fehl am Platz. Dass ihre Mutter mit verschiedenen spirituellen Richtungen und etlichen Männern experimentiert, öffnet Evie ebenfalls für zweierlei, die Bedeutung einer männlichen Figur im Leben für das eigene Glück sowie die Akzeptanz unkonventioneller Weltanschauung.

Als Evie im Park auf drei Mädchen trifft, spürt sie sofort, dass diese etwas wissen, einen Zusammenhalt haben, an dem Evie gerne teil hätte.

Etwas von einer anderen Welt umgab sie, ein schmutziges Kittelkleid bedeckte kaum ihren Hintern. Flankiert wurde sie von einem mageren Rotschopf und einem älteren Mädchen, die beide mit der gleichen schäbigen Beiläufigkeit gekleidet waren. Wie aus einem See gezogen.

Vor allem Suzanne beeindruckt Evie, und als sich eine Gelegenheit bietet, hilft Evie der Älteren aus.

Gefühlte Seelenverwandtschaft, Drogen und psychische Abhängigkeit

Suzanne und die anderen Mädchen nehmen Evie schließlich mit auf Russells Ranch, wo eine Gruppe Hippies sich ihr eigenes kleines Reich aufgebaut hat. Was auf den ersten Blick wie eine gleichberechtigte Kommune scheint, entpuppt sich schnell als Königreich Russells. Dieser verfügt wie er möchte über die Mädchen, die dankbar für jede Aufmerksamkeit des Gurus sind. Evie spielt dieses Spiel mit, ist jedoch vor allem an der Freundschaft zu Suzanne interessiert.

Als ob Suzanne und ich im selben Song vorkämen.

Während von Anfang an klar ist, worauf die Situation in der Ranch hinauslaufen wird – mehrere Morde werden gleich zu Beginn von The Girls vorausgedeutet – , ist das Setting auf der Ranch und in der der Manson Family nachempfundenen Sekte nur Hintergrund für ein viel allgemeineres, zeitloses Thema. Kern des Romans ist die Sozialisierung von Mädchen zum leichten Opfer.

Ich wartete darauf, dass jemand mir sagte, was gut an mir war. Später fragte ich mich, ob das der Grund dafür war, dass es auf der Ranch viel mehr Frauen als Männer gab. All die Zeit, die ich darauf verwendet hatte, mich vorzubereiten, die Artikel, die mich gelehrt hatten, dass das Leben eigentlich nur ein Wartezimmer war, bis einen jemand bemerkte – diese Zeit hatten die Jungs damit verbracht, sie selbst zu werden.

Warum ausgerechnet Mädchen?

Evie selbst analysiert es in ihrem späteren Leben. Mädchen werden so aufgezogen, dass sie ihr Selbstbewusstsein aus der Bestätigung anderer ziehen. Diese Abhängigkeit von externer Anerkennung macht uns noch bis ins Erwachsenenalter empfänglich für falsches Lob und leicht ausnutzbar.

Waren es in den 1960ern Zeitschriften, die den Mädchen zeigten, wie sie zu sein hatten, sind es heute Youtuberinnen und „Beauty Influencer“, auf die man hören muss, wenn man Anerkennung möchte. Gerade die Vermittlung dieser „Tipps“ von Mädchen zu Mädchen macht sie so glaubwürdig. Denn natürlich will jedes Mädchen so beliebt und anerkannt sein, wie es das von der besten Freundin glaubt.

Mädchen sind die Einzigen, die einander wirklich Aufmerksamkeit schenken können, die Art, die wir mit dem Geliebtsein gleichsetzen. Sie registrieren, was wir registriert haben wollen.

Genau wie bei der Manson Family spielen auch bei Russells Truppe Drogen eine große Rolle. Alkohol ist an der Tagesordnung, Gras wird selbst angebaut und zwischendurch wirft man sich die Pillen ein, die einer der Männer ranschafft. Die Alltagsprobleme werden so lange klein getrunken, bis Alkohol und Drogen selbst eins der Probleme sind.

Ich konnte trinken, bis meine Probleme kompakt und hübsch erschienen, als etwas, das ich bewundern konnte.

Die alles entscheidende – und nicht beantwortete – Frage in The Girls

Über Evies Rückschau steht immer wieder eine Frage, die man sich selbst beim Lesen auch stellt. Wie hätte sie selbst (oder man selbst) reagiert? Evie selbst war nicht bei den Morden dabei, bewusst dagegen entschieden hat sie sich jedoch nicht. Die Frage, die sie sich selbst nicht beantworten kann und die ihr ein lebenslanges Misstrauen in die Menschheit beschert, lautet: Was wäre gewesen, wenn sie vor Ort gewesen wäre? Hätte sie das Morden verhindert? Oder hätte sie mitgemacht?

Ich drehte die Musik leise. Machte die Kühlschranktür zu, die Suzanne offen gelassen hatte. […] Ich würde immer so jemand sein, dachte ich, diejenige, die den Kühlschrank zumachte.

The Girls ist ein von der ersten bis zur letzten Seite packender Roman, der einen vor allem deswegen nicht loslässt, weil Evies Geschichte nicht so verschieden ist von der eines ganz normalen Mädchens, einer ganz normalen Frau. Die Umstände, unter denen sie aufwächst und ihre Entscheidungen trifft, sind extrem, ihre Umstände und die an sie gerichteten Erwartungen jedoch nicht.

Wer sensationsgierig auf Schilderungen zur Manson Family hofft, sollte eher zu Google gehen. Wer eine Sozialstudie über die Schwierigkeit, als Mädchen aufzuwachsen, lesen will, ist hier absolut richtig.

 

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