Irgendwann im Leben dämmert einem, dass es mehr Träume gibt als Möglichkeiten, dass nicht auf jeden genau das Leben wartet, dass man sich erhofft hat. Je größer das Versprechen war, das einem gemacht – und nicht eingehalten – wurde, je bedeutender die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität, desto enttäuschter und wütender reagiert man auf diese Einsicht.
Thomas ist Mitte dreißig und ihm wird langsam klar, dass nicht nur er selbst keine bedeutende Rolle in dieser Welt spielt, sondern seine ganze Generation um Ruhm und Ehre gebracht wurde. Symbolisch steht das Leben seines Studienkameraden Kev aus Thomas‘ Sicht für diese Tatsache: Kev, der sich vorgenommen hatte, Astronaut zu werden, um mit dem Space Shuttle ins All zu fahren, hat brav alles gemacht, was von ihm verlangt wurde – Studium, Kampf- und Flugausbildung, mehr Studium -, um kurz nach dem Abschluss seiner Ausbildung damit konfrontiert zu werden, dass das Space Shuttle-Programm eingestellt wird und die Arbeit, die er sich nach den Regeln des Systems gemacht hat, sich nicht wie versprochen gelohnt hat.
Kev kommt mit dieser Situation jedoch deutlich besser klar als sein Bewunderer Thomas, der endlich Antworten will auf die Fragen, die ihn drängen. Und da Kev derjenige ist, der sie wahrscheinlich beantworten kann, entführt Thomas ihn kurzerhand, schleppt ihn auf ein verlassenes Militär-Gelände und befragt ihn dort nach dem Sinn des Lebens, nach nicht eingelösten Versprechungen und danach, wie man mit den täglichen Enttäuschungen umgehen kann.
Eure Väter, wo sind sie? Eine Generation ohne Orientierung
Es bleibt nicht bei Kev, Thomas startet durch das Gespräch mit dem Astronauten eine Reise in die eigene Vergangenheit und holt sich zur Unterstützung weitere Zeitzeugen und Ratgeber, die natürlich auch nicht freiwillig kommen, auf den Militärstützpunkt. In den Gesprächen, die er unter anderem mit seinem High School-Lehrer, seiner Mutter und einem Kongressabgeordneten führt, streift er die aktuelle US-amerikanische Geschichte, will endlich herausfinden, was auf der Mathe-Übernachtungs-Party, zu der sein Lehrer ihn und einige Klassekameraden eingeladen hatte, wirklich passiert ist, und warum sein Freund Don im eigenen Garten von zwölf Polizisten erschossen wurde.
Dabei fühlt sich Thomas trotz all der Entführungen, die er begeht, im Recht, da er sich in seinen Augen nur endlich die Antworten verschafft, die ihm zustehen und die ihm niemand freiwillig geben will. Einer formalistischen Welt, in der sich Polizisten darauf berufen, dass es in Ordnung ist, jemanden zu erschießen, der weniger als sechs Meter von ihnen entfernt ist und ein Messer in der Hand hält, will er seine eigene moralische Instanz, sein Gewissen entgegen setzen. Dass Thomas ganz klar übergeschnappt ist und weit über jegliches Ziel hinaus schießt, ändert nichts daran, dass er in vielen seiner Kritikpunkte Recht hat. Die Lösung, die er wählt, ist sicher nicht die richtige, aber die Probleme hat er in jedem Fall erkannt.
Aber was da im Krankenhaus passiert ist, das ist etwas anderes. Es ist nicht menschlich. Es ist nicht primitiv. Deshalb verstehen wir es nicht. Es ist eine moderne Mutation. Wir alle haben Liebe und Hass und Leidenschaft und das Bedürfnis, zu essen und zu schreien und zu vögeln, das sind Dinge, die jeder Mensch hat. Aber es gibt diese neue Mutation, diese Fähigkeit, sich zwischen einen Menschen und ein Mindestmaß an Gerechtigkeit zu stellen und das mit irgendeiner Vorschrift zu rechtfertigen. Zu sagen, dass das Formular nicht richtig ausgefüllt wurde.
(Kongressabgeordneter, von Thomas entführt)
Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig? ist vollständig in Dialog-Form geschrieben. Thomas spricht mit seinen Entführungsopfern, stellt Fragen, hinterfragt das System und erfährt ein bisschen über sich selbst – so weit er das zulässt. Dabei macht Thomas jedem einzelnen klar, dass er ihn oder sie nur entführt hat, weil das für ihn die einzige Möglichkeit zu einem Dialog ist: Wenn er sein Gegenüber nicht zwingt, mit ihm zu reden, wird da sowieso nichts draus. Die Dialoge, die entstehen, sind tief, breit gefächert und oft auch ziemlich witzig, weil Thomas zwar wahnsinnig, aber auch sehr klug ist und in manchen Situationen das Absurde an seiner Situation durchaus erkennt.
Der Titel Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig? ist ein Bibel-Zitat. Don wirft es den Polizisten, die ihn im Garten umstellt haben, an den Kopf, und er spielt damit an auf die Orientierungslosigkeit seiner Generation, die auch Thomas umtreibt. Dass beide ohne Vater aufgewachsen sind, ist die vordergründige Bedeutung des Zitats, vielmehr fehlt ihnen jedoch nicht nur der eigene Vater, sondern eine Generation, die als Vorbild dienen kann und der man nachfolgen kann. Die erste Vater-Figur, der Thomas begegnet, ist der entführte Kongressabgeordnete, der versucht, dem jungen Mann Tipps für seine Flucht zu geben.
Seid nicht wie eure Väter, denen die früheren Propheten verkündeten: So spricht der Herr der Heere: Kehrt doch um von euren heillosen Wegen und von euren heillosen Taten. Aber sie hörten nicht und schenkten mir kein Gehör – Spruch des Herrn.
Wo sind nun eure Väter? Und die Propheten – leben sie ewig?
(Altes Testament, Sacharja 1, 4-5)
Es gibt noch einen anderen jungen wütenden Mann in der jüngeren amerikanischen Literatur, einen, der auch eine ohne Väter aufgewachsene, orientierungslose Generation vertritt und sich um die Versprechungen betrogen fühlt, die ihm gemacht worden sind. Tyler Durden, der mit seinem Fight Club Männern wie ihm die Chance geben wollte, ihre Wut abzureagieren, und mit seinem Projekt Chaos die Welt verändern wollte, traf genau wie Thomas die Erkenntnis, dass die Wahrscheinlichkeit, vom Leben enttäuscht zu werden, viel größer ist, als die Chance auf die Verwirklichung der eigenen Träume.
Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen in dem Glauben, dass wir alle irgendwann mal Millionäre werden, Filmgötter, Rockstars. Werden wir aber nicht! Und das wird uns langsam klar. Und wir sind kurz, ganz kurz vorm Ausrasten.
(Tyler Durden, Fight Club)
Interessanterweise ist Fight Club knapp zwanzig Jahre älter als Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?, so dass Tyler, wenn man dieses Gedankenspiel denn machen möchte, im Grunde Thomas‘ Vater sein könnte. Die Erfahrungen, die der Hobby-Entführer mit dem Leben macht, sind also gar nicht, wie er vermutet, generationenspezifisch. Wahrscheinlich hat schon Generationen von jungen, wütenden Männern (und Frauen) die Orientierung gefehlt, die man am Ende eben nicht geliefert bekommt, sondern sich selbst suchen muss. Die Verantwortung dafür, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, tragen weder Väter, Mütter noch Propheten sondern man selbst. Vielleicht würde es Menschen wie Thomas und Tyler helfen, wenn ihnen das jemand sagen würde.