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Helfen, wenn man helfen kann

von Yvonne

In Zeiten, in denen Fluggesellschaften überlegen, übergewichtigen Menschen eine zusätzliche Gebühr in Rechnung zu stellen, Sendungen wie The Biggest Loser das Abnehmen (und das Scheitern dabei) öffentlich zelebrieren und die Bundesregierung einen Nationalen Aktionsplan für gesunde Ernährung und mehr Bewegung ins Leben ruft, ist Essen längst keine Privatsache mehr. Bewusst oder unbewusst wird ein negativer Zusammenhang zwischen dem Gewicht einer Person und so wünschenswerten Eigenschaften wie Bildung, Fleiß, Intelligenz, Erfolg und sozialer Schicht unterstellt, dabei ist selbst die Korrelation zwischen Gewicht und Gesundheit zumindest nicht linear. Aber die Rechnung dick = dumm ist so verführerisch einfach, dass man ihr kaum widerstehen kann, und wo ungesunde Nahrung billig und stets verfügbar ist, wird Enthaltsamkeit zum neuen Abgrenzungskriterium nach unten.

Pandora Halfdanarson hat eine besondere Beziehung zu Ernährung, seit sie ihr Catering-Unternehmen aufgegeben hat. Ihr Mann Fletcher fährt einen ziemlichen Gesundheitstrip und will der ganzen Familie seine Ansichten zu Rohkost und täglichen zweistündigen Radtouren aufzwingen, während Pandora selbst versucht, hierzu einen Gegenpol zu bilden, den Kindern Tanner und Cody Freude am Essen zu vermitteln und nicht nur auf Nährwerte, sondern auch auf Geschmack zu achten. Dabei hat sie eigentlich anderes zu tun, als sich über Essen und die paar Kilo, die sie selbst zugelegt hat, Gedanken zu machen. Völlig überraschend hat sich die Idee, sprechende Puppen-Doubles von geliebten Personen, die die Welt mit den nervigsten Sprüchen ihrer „Originale“ erfreuen, in das ziemlich erfolgreiche Unternehmen Baby Monotonous entwickelt, und Pandora ist vom Caterer zum Familien-Ernährer geworden.

Familienbande und Verantwortung

Doch Familie besteht ja meist nicht nur aus Ehemann und (in diesem Fall Stief-)Kindern, sondern eine besonders enge Bindung bleibt meist auch zur Herkunftsfamilie, zu Eltern und Geschwistern. Da Pandoras Kindheit vor allem durch die Fernseh-Karriere ihres Vaters Travis Appaloosa geprägt war, das eigentliche Familien-Leben vor der Kamera stattfand und Travis zu seinen Serien-Kindern eine engere Bindung als zu den eigenen hatte, ist Pandora im Grunde ganz froh, sich selbst eine Alternative hierzu aufgebaut zu haben. Kontakt hält sie hauptsächlich mit ihrem Bruder Edison, einem Jazz-Pianisten, der mit dem Künstler-Nachnamen des Vaters Karriere gemacht hat und in New York lebt. Allerdings ist der Kontakt mehr als locker, und nachdem Pandora ihren Bruder vier Jahre lang nicht gesehen und kaum gehört hat, erhält sie einen Anruf von einem New Yorker Freund von Edison. Dieser drängt Pandora, sich um ihren Bruder zu kümmern, da der Erfolg in New York wohl nicht ganz so groß ist wie man an Hand der Erzählungen des Bruders hätte denken können.

Ganz im Stil der erfolgreichen Unternehmerin schickt Pandora Geld und ein Flugticket – und erkennt ihren Bruder nicht wieder, als sie ihm am Flughafen gegenübersteht. Mehr als 100 Kilo hat Edison zugenommen. Aus dem attraktiven und energiegeladenen Mann ist ein körperlicher und seelischer Pflegefall geworden. Geld verdient Edison längst keins mehr, und seine Flucht aus seinem enttäuschenden Leben findet über das Essen statt.

Pandora quartiert ihren Bruder für zunächst unbestimmte Zeit bei sich zu Hause ein. Das Gewicht wird von niemandem richtig thematisiert. Pandora steckt ihrem Bruder stattdessen weiterhin Geld zu, das dieser direkt in Lebensmittel umsetzt. Fletcher, der weder Geschwister noch ein Gramm zu viel auf den Rippen hat, zeigt keinerlei Verständnis für Pandoras Gewissenskonflikt und kann es kaum erwarten, dass der „Fettwanst“ endlich wieder auszieht. Für Pandora stellt sich jedoch die Frage, ob sie ihrem Bruder helfen kann – und will.

Einfühlsame und berührende Geschichte über eine Geschwister-Beziehung

Es sind drei große Themen, die Lionel Shriver in ihrem respekt- und gefühlvollen Roman Großer Bruder anspricht. Der gesellschaftliche Umgang mit Übergewicht ist das erste und dasjenige, das den ersten Teil des Romans bestimmt. Während Pandora sich noch über ihre sieben bis neun Kilogramm Übergewicht ärgert, verblasst dieses reine Ego-Problem angesichts der Leibesfülle ihres Bruders. Dieser wird von der Außenwelt auf sein Gewicht reduziert. Am Flughafen hört Pandora, wie zwei Fluggäste sich über „diesen unmöglichen Typen“ unterhalten, noch bevor sie ihren Bruder sieht. In Fletchers Augen kann man Edison ohnehin nur noch abschreiben, im Restaurant versucht man, ihn in eine dunkle Ecke zu verfrachten. Die einzigen, die in Edison einen wertvollen Menschen sehen, sind Pandora und ihre Stieftochter Cody, die eine, weil sie mit Edison viele gemeinsame Erinnerungen verbinden, die andere, weil sie ein empathischer Mensch ist, der erkennt, dass die knapp 200 kg des Onkels nicht auf Faulheit, Gleichgültigkeit oder mangelnde Selbstdisziplin, sondern auf persönliches Leid zurückzuführen sind. Lionel Shriver schafft es, dieses Thema sowohl deutlich als auch respektvoll zu behandeln, was eine Gratwanderung zwischen Sorgen um den Gesundheitszustand des Bruders und Verständnis für seine Situation bedeutet.

Essen als Sucht

Das zweite Thema von Großer Bruder ist grundsätzliches Suchtverhalten, denn um nichts anderes handelt es sich bei Edisons Erkrankung, die – so wird in Andeutungen immer wieder klar – auf eine Depression zurückgeht. Dass Edison süchtig nach Essen ist, wird dem Leser und Pandora allerspätestens klar, als sie ihren Bruder dabei erwischt, wie er Puderzucker mit dem Löffel aus der Packung isst. Diese Szene – demütigend, berührend und schockierend zugleich – zeigt deutlich den absoluten Kontrollverlust, der nur eins nach sich ziehen kann: eine dringend nötige Hilfe von außen.

Pandora entschließt sich, diese Hilfe zu leisten und setzt ihren Bruder auf Essensentzug, und diese Hilfe ist der dritte große Themenbereich von Großer Bruder, dem zwar das kürzeste Kapitel gewidmet ist, der aber letztlich das alles umfassende Hauptthema bildet. Wann muss man helfen? Wie viel muss man helfen? Bis zu welchem Punkt kann man sich der Verantwortung entziehen? Die Antwort, die Großer Bruder gibt, ist so einfach wie ernüchternd. Man muss tun, was getan werden muss, denn sonst tut es ja niemand. Ein ähnliches Thema beschäftigte Lionel Shriver bereits in ihrem mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichneten Roman Wir müssen über Kevin reden (hervorragend verfilmt von Lynne Ramsay unter dem Originaltitel We need to talk about Kevin mit Tilda Swinton und Ezra Miller), in dem eine Mutter eben nicht einschreitet und den Amok-Lauf ihres Sohns nicht verhindert. In beiden Romanen zeichnet sich außerdem deutlich die Dynamik von Familien ab, Eifersüchte, Verantwortlichkeiten und festgelegte Rollen-Definitionen, die einem manchmal bei einer vernünftigen Entscheidung auch im Weg stehen.

Die Beschreibung des „Abnahme-Camps“ von Edison unter Pandoras Leitung wirkt manchmal ein wenig befremdlich, manchmal schon zu harmonisch und fast unglaubwürdig, doch dafür wird man mit dem furiosen und beinahe schockierenden Ende von Großer Bruder mehr als entschädigt.

Großer Bruder ist Lionel Shrivers zwölfter Roman. Neben dem Orange Prize for Fiction für We need to talk about Kevin war sie außerdem für den National Book Award nominiert. Mit Großer Bruder legt sie einen einfühlsamen, zum Teil schockierenden und in jedem Fall überwältigenden Roman über Sucht, Familie und Verantwortung vor.

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