Sofia Papastergiadis verbringt den Sommer mit ihrer Mutter im spanischen Alméria. Die Reise ist jedoch kein vergnüglicher Sommerurlaub, sondern medizinische Notwendigkeit. Bereits seit Jahren leidet Sofias Mutter unter einer mysteriösen Krankheit, die sie davon abhält zu laufen. Zumindest meistens. Ihre Beine sind taub und nicht zu gebrauchen, außer in wenigen Ausnahmefällen, für die es keine Erklärung gibt. Die Ärzte wissen nicht mehr weiter. Nur Dr. Gómez in Spanien könnte mit seinen unkonventionellen Methoden noch Antworten finden.
Die heiße Milch der Menschlichkeit
Während sich Sofia um ihre Mutter kümmert, hat sie ihr eigenes Leben weit nach hinten gestellt. Ihr Anthropologie-Studim könnte sie mit einer Doktorarbeit abschließen, aber die Krankheit ihrer Mutter hält sie davon ab, die hierzu notwendige Reise in die USA anzutreten. Da ihr griechischer Vater die Familie verlassen hat, kann niemand außer Sofia für die Mutter da sein. Statt also ihr Studim zu beenden, betätigt Sofia sich in Spanien als praktische Anthropologin. Sie beobachtet ihre Umgebung und analysiert alles und jeden.
Anything covered is always interesting. There is never nothing beneath something that is covered.
Die offensichtlich psychosomatische Krankheit der Mutter geht mit etlichen Vorwürfen in Sofias Richtung einher. Sie ist faul, zu dick und bringt auch immer das falsche Wasser. Zwei Begegnungen mit Gleichaltrigen sowie die genaue Beobachtungsgabe von Dr. Gómez bringen Sofia dazu, sich zum ersten Mal mit ihrem eigenen Befinden auseinanderzusetzen.
I am not okay. Not at all and haven’t been for some time.
Die erste neue Bekanntschaft, die Sofia macht, ist Juan. Der Student jobbt am Strand und verarztet Touristen mit Quallenstichen. Da Sofia nicht sehr vorsichtig beim Schwimmen ist, kommt sie mehr als einmal auf seine Unterstützung zurück.
Die zweite prägende Begegnung ist Ingrid, eine junge Deutsche, in die Sofia sich verliebt. Ingrid plagen ihre eigenen Schuldgefühle, doch trotzdem schafft sie es, in Sofia so etwas wie eine Priorität für sich selbst anzulegen.
Zwischen Rollenbildern und Erwartungen
Das umfassende Thema von Hot Milk ist die Frage, an welche Position man sich selbst in seinem Leben setzt. Sofia steht in ihrem eigenen Wichtigkeits-Ranking relativ weit hinten. Geprägt ist dies vor allem durch das weibliche Rollenbild, das ihr vorgelebt und abverlangt wird. Die griechischen Wurzeln, die Sofia hat, verstärken die Erwartungen noch, dass gerade sie als Frau / Tochter / Freundin, sich zurücknehmen und andere an erste Stelle setzen soll, noch. Und obwohl ihre Mutter das selbe Schicksal teilt, vererbt sie es aktiv, indem sie von ihrer Tochter ebenfalls Selbstaufgabe verlangt.
She had worked all her life and she had a driving licence, but she would have been neither a citizen nor a foreigner in ancient Greece. She would have had no rights in these ruins that were once a whole civilization which saw her as a vessel to impregnate.
Das genaue Gegenteil zu diesem Rollenverhalten bildet Vater Papastergiadis. Nach der Trennung hat er sich eine Frau in Sofias Alter zugelegt, eine neue Tochter bekommen und keinerlei Gewissensbisse, dass er seine Tochter aus erster Ehe weder monetär noch emotional unterstützt.
Männliche und weibliche Selbst- und Weltsicht
Dass der Vater sich in seinem Verhalten nur nach seinem eigenen Vorteil richtet, scheint selbstverständlich. Zumindest sieht seine neue Ehefrau das so. Für Sofia ist der Gedanke, dass man Handlungen ausschließlich danach aussucht, was sie einem selbst bringen, völlig neu.
Why would my father do anything that was not to his advantage? She had said it so lightly, but her question is like a wind blowing through the calm blue folds of their homeley sofa. A wind that has even brought the squirrel from the tree to the window. Do I do things that are not to my advantage?
Auch Sofias Mutter muss lernen, Dinge zu tun, die für sie selbst von Vorteil sind. Da die beiden – wie viele andere Frauen auch – aktiv gelernt haben, sich erst um andere und dann um sich zu kümmern, ist Hot Milk auch ein emanzipatorischer Entwicklungsroman. Mutter und Tochter lernen etwas, was man ihnen bisher verweigert hat. Nicht einmal das, was man „gesunden Egoismus“ nennt, sondern schlicht und einfach Selbstfürsorge. Dass keiner der Männer in Hot Milk ein Problem damit hat, überrascht nicht. Denn nicht nur die Anthropologin Sofia weiß, wie unterschiedlich Männer und Frauen sozialisiert werden – vor allem in Bezug auf ihr jeweiliges Sozialverhalten.
Um Teil der Welt zu sein, muss man in ihr leben
Eine weitere wichtige Lektion lernt Sofia in Spanien: Es reicht nicht aus, immer eine beobachtende Rolle einzunehmen. Wer ein Teil der Welt sein möchte, darf sich nicht an den Rand stellen und nur zuschauen, sondern muss mitspielen.
It never occured to me that, like the medusa, technology stares back and that its gaze might have petrified me, made me fearful to come down, down to the check-out tills and the barcodes and the too many words for profit and the not enough words for pain.
Hot Milk ist ein Selbstfindungsroman einer jungen Frau in einer Gesellschaft, die immer noch soziale Stereotype zum Leitbild verhängt. Eigentlich handelt es sich um einen Coming-of-Age-Roman. Dass die Protagonistin 25 Jahre alt ist, als sie endlich erwachsen / unabhängig wird, ist dabei bezeichnend. Denn Erwachsenwerden bedeutet ja nicht nur, die Verantwortung für andere übernehmen zu können, sondern auch für sich selbst einzustehen.
Hot Milk stand auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2016. Damit ist Deborah Levy bereits zum zweiten Mal für den Britischen Literaturpreis nominiert. Der Roman ist bisher nur auf Englisch erhältlich.