Was ich als Kind oder Jugendliche über Gefängnisse gelernt habe, habe ich sehr wahrscheinlich im Fernsehen aufgeschnappt. Weder zuhause noch in der Schule wurde darüber gesprochen, wie das Strafsystem unserer Gesellschaft aussieht – es spielte einfach keine Rolle. Erst später, während des Studiums, hörte ich vom Sinn eines Strafsystems. Im Fokus standen dabei stets die Abwehr von Schaden von der Gesellschaft einerseits und die Vorbereitung des straffällig gewordenen Menschen auf ein normales Leben, eine zweite Chance.
Soweit die Theorie.
Heute weiß ich, was für ein großes Privileg es ist, keine Menschen zu kennen, die von Gefängnis bedroht sind, die vielleicht schon einmal gefangen waren. Die Anzahl der Gefangenen im Strafvollzug ist in Deutschland relativ gering. 2016 kamen auf 100.000 Einwohner*innen 77 Gefängnisinsass*innen. Damit belegt Deutschland Platz 27 im internationalen Ranking.
Gefängnis als Reproduktion sozialer Ungleichheit
Andere Länder haben deutlich höhere Quoten. Die Liste wird angeführt von den USA, wo 666 von 100.000 Menschen 2016 im Gefängnis saßen, also in etwa 1 von 150. In Ich bin ein Schicksal ist eine dieser mehr als zwei Millionen Insassinnen Romy Hall, benannt nach Romy Schneider, für die ihre Mutter schwärmte. Und zwar offensichtlich mehr als für ihre eigene Tochter, denn die Verhältnisse, in denen Romy aufwächst, kann man nicht anders als prekär bezeichnen.
Der Weg ins Gefängnis mit Ende 20 ist bei ihr lange vorgezeichnet. Als Elfjährige läuft sie nachts allein am Union Square in San Francisco herum, bis ein älterer Mann sie in sein Hotelzimmer lockt, als Jugendliche nimmt sie Drogen und ganz sicher weiß sie schon früh über Gefängnisse Bescheid. In ihren Zwanzigern arbeitet sie schließlich im Mars Room, einem heruntergekommenen Strip Club. Mit dem Job hält sie sich selbst und ihren Sohn Jackson über Wasser, für den natürlich kein Vater sorgt.
Ich bin ein Schicksal: Direkter Weg ins Gefängnis
Der Job im Mars Room führt geradewegs ins Gefängnis. Ein Stalker setzt Romy so zu, dass sie sich nur noch mit Gewalt zu helfen weiß. Der Pflichtverteidiger tut wirklich nicht mehr als seine Pflicht und so beginnt für Romy Hall der Rest ihres Lebens in der Stanville Women’s Correctional Facility. Mit einer Strafe von zwei mal lebenslänglich plus sechs Jahre ist sichergestellt, dass sie wirklich nie wieder ein normales Leben führen wird.
Ich bin ein Schicksal folgt Romy auf ihrem Weg in ihr neues „Zuhause“, in dem sie und alle anderen Insassinnen nicht nur all ihre Rechte verloren haben, sondern auch nicht mehr wie Menschen angesehen werden. Eine Gefangene bekommt auf dem Gefängnisboden ihr Kind, ohne dass das Wachpersonal hilft – sie hätte schließlich nicht straffällig werden können, wenn sie wie ein Mensch behandelt werden will. Von den Frauen wird regelkonformes Verhalten erwartet. Ansonsten werden sie verwahrt und einmal am Tag für eine Runde auf dem Hof herausgelassen.
Rachel Kushner gibt in ihrem dritten Roman, der für den Man Booker Prize 2018 nominiert war und nun auf Deutsch erscheint, einen Einblick in eine Welt, die man sonst nur aus Netflix-Serien kennt. Dabei ist Ich bin ein Schicksal deutlich düsterer als Orange is the New Black, denn Romy sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis, in dem noch strengere und härtere Regeln gelten. Auch die Sichtweise ist nicht die einer Privilegierten, die man eigentlich nicht im Gefängnis erwarten würde, sondern die einer Frau, deren Leben schon gleich zu Beginn die Möglichkeit bereithielt, einmal dort zu landen, die arm ist, keinen guten Job hat und außerdem definitiv schuldig ist.
Ein System für einen Teil der Gesellschaft
Wenn man dieses Buch liest, wird schnell klar: Es geht in diesem Gefängnis nicht darum, Menschen eine zweite Chance zu geben, sie mit einer Ausbildung auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten oder sie zur Einsicht zu bringen, dass es auch anders geht. Es geht darum, ein System am Leben zu halten.
Dieses System ist für diejenigen gemacht, die Geld haben, deren Eltern Geld haben. Genug, um den richtigen Umgang zu finden, eine gute Schule zu besuchen und nicht straffällig zu werden. Genug, um sich im Zweifel einen besseren Anwalt leisten zu können. Wer in den USA arm geboren ist, hat kaum Chancen auf sozialen Aufstieg. Bildung kostet Geld, eine Wohnung in einem sicheren sozialen Umfeld kostet Geld und wer sein Kind nicht sich selbst überlassen will, muss entweder zuhause bleiben oder jemanden dafür bezahlen. Beides ist für viele, gerade Alleinerziehende, nicht möglich, wenn das Kind außerdem noch etwas essen oder anziehen soll. In einem solchen Umfeld macht niemand eine Lehre bei der Bank oder studiert Kunstgeschichte. Wahrscheinlicher ist es, dass man Drogen nimmt, sie verkauft oder sich anders illegal Geld verschafft.
Das Gefängnissystem sorgt dafür, dass die Mittel- und Oberschicht sich sicher fühlen, dass sie Menschen haben, gegen die sie sich nach unten abgrenzen können. Es ist außerdem ein wichtiger Wirtschaftszweig. Ein Teil der US-amerikanischen Gefängnisse wird durch private Sicherheitsfirmen betreut, die – wie jedes andere Unternehmen auch – Gewinnziele und Kostendruck haben. Gefangene sind dort keine Menschen, die einen Fehler gemacht haben, sondern Einnahmequelle und Kostenverursacher in einem. Und so werden sie auch behandelt.
Ich bin ein Schicksal wirft die Frage auf, was es über eine Gesellschaft aussagt, die sich ein solches System leistet, die es braucht, um funktionieren zu können. Und der Roman gibt mit Romy Hall einer Gefängnisnummer wieder einen Namen, ein Gesicht und einen Lebenslauf, den sich niemand selbst so ausgesucht hätte.
Erster Satz: Kettennacht ist einmal die Woche donnerstags.