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Ein Film, der nie gedreht wurde

von Yvonne

1944 gibt es nicht viele junge und gesunde Erwachsene, die nicht zum Kriegsdienst einberufen sind. Ausnahmeregelungen existieren nur für Personen in Berufen, die für den Krieg wichtig sind, und aus Propaganda- und Volksbespaßungsgründen gehören Film-Schaffende dazu. In Berlin wird gerade der Kostüm-Film „Lied der Freiheit“ gedreht, der zu Napoleons Zeiten spielt. Doch die zunehmenden Bombardierungen der Hauptstadt durch die Alliierten machen es der Film-Crew immer weniger attraktiv, in Berlin zu bleiben.

Doch einfach fortgehen ist keine Option – selbst vom Film kann man nicht desertieren, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Daher entwickelt man einen ausgeklügelten Plan: Durch einen Brand-Anschlag wird das Studio unbrauchbar gemacht, das Drehbuch wird ein bisschen adaptiert und die Aufnahmen werden kurzerhand in das bayerische Alpen-Örtchen Kastelau verlegt, wo es um vieles sicherer ist als in Berlin. Mit von der Partie sind unter anderem der Regisseur Servatius, der mit Schreibverbot belegte Drehbuch-Autor Walter Wagenknecht, die Schauspielerinnen Maria Mara – ein Star – und Tiziana Adam – eine unbedeutende, aber sehr clevere Neben-Neben-Darstellerin und der Hauptdarsteller Walter Arnold, der nach seiner UFA-Karriere den Absprung in die USA schafft und dort unter dem Namen Arnie Walton ein gefeierter Star wird.

Etwa vierzig Jahre später möchte der US-amerikanische Doktorand Samuel Anthony Saunders über ein filmgeschichtliches Thema schreiben und trifft bei seinen Recherchen auf Tiziana Adam, deren Erzählungen aus Kastelau ihn auf ein schreckliches Geheimnis von Arnie Walton stoßen. Doch dessen Produktionsgesellschaft bekommt Wind von Samuels Vorhaben und setzt diesen und auch seinen Professor unter Druck, die Veröffentlichung zu stoppen. Erst 2011 gestattet man Saunders, seine Theorien zu verbreiten, doch Walton ist seit zwanzig Jahren tot und kein Verlag interessiert sich mehr für dessen Geschichte, sei sie auch noch so skandalös. Und so zieht Saunders schließlich eines Nachts mit Spitzhacke auf den Walk of Fame in Hollywood und will wenigstens den Stern seiner persönlichen Nemesis entfernen, wird jedoch von einem Polizisten angeschossen und stirbt in der Folge.

Gespielter Film-Dreh in Kastelau

Kastelau beginnt da, wo meine Beschreibung aufhört: Mit der Spitzhacken-Attacke des Samuel Saunders, der eine kurze Notiz von Autor – „Herausgeber“ – Charles Lewinsky folgt, dass in Saunders‘ Unterlagen ein Manuskript und diverse Interviews und Tagebücher gefunden wurden, die er in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht hat und dem Leser zur Verfügung stellt, damit dieser sich sein eigenes Bild mache. Denn Kastelau ist kein „gewöhnlicher“ Roman mit Plot, Handlung und unerwarteten Wendungen, sondern er besteht tatsächlich aus den – fiktiven – Materialien, die der ebenfalls fiktive Samuel Saunders hinterlassen hat. Aus Interview mit Tiziana Adam, den Tagebüchern von Walter Wagenknecht, Aussagen von Zeitzeugen, Briefen und schließlich dem Manuskript von Saunders selbst ergibt sich schließlich doch eine Geschichte, und zwar eine durchaus tragische. Doch nicht nur von den Schauspielern, die in Kastelau einen Ausweg aus ihrer Situation suchen, wird erzählt, sondern ebenso von Samuel Saunders, dessen persönliches Schicksal eng mit seiner nie veröffentlichten Dissertation und den – möglichen – Lügen um Walter Arnold / Arnie Walton zusammenhängt.

Mindestens ebenso spannend und faszinierend wie das Was? ist in Kastelau daher das Wie?, das einen die Geschichte Stück für Stück selbst zusammen setzen lässt.

Kastelau steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2014.

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