Keinland fängt am Ende an, am Ende einer Beziehung. Nadja wacht eines Morgens in ihrer Berliner Wohnung auf und Martin ist gegangen. Dass er zurück in sein Heimatland Israel geflogen ist, erfährt sie zunächst über Twitter und erst später über eine Notiz, die er ihr dagelassen hat. Für Nadja ist klar, dass diese Trennung endgültig ist. In Gedanken spürt sie ihrer vergangenen Beziehung nach, die immerhin ein Jahr lang gehalten hat.
Gestern warst du noch da. Morgen wirst du schon gestern gegangen sein. Futur zwei. Nun das Gegenteil von Zukunft.
Dabei wundert sie sich selbst darüber, dass Martin sich überhaupt auf sie eingelassen hat. Denn der Start der beiden war alles andere als vielversprechend. Nadja, Journalistin und selbst in der DDR aufgewachsen, sucht für einen Artikel über Länder mit Mauern einen Interview-Partner aus Israel. Martin, aus Westdeutschland vor Jahren nach Tel Aviv gezogen, empfindet schon die Frage als Unverschämtheit und stellt klar, dass er nie für ein Gespräch zur Verfügung stehen wird. Doch Nadja lässt sich nicht abwimmeln, reist kurzerhand nach Israel und die beiden verlieben sich ineinander. Dabei stellt Martin von Anfang an klar, dass er noch nie auf Dauer mit einer Frau zusammengeblieben ist und auch nicht glaubt, dass er in Zukunft dazu in der Lage sein wird.
Ich konnte sein Hören hören, wenn wir schwiegen.
Keinland als eigener Raum zwischen den Grenzen
Nadja will natürlich trotzdem versuchen, diese Liebe entgegen aller Widerstände aufrechtzuerhalten. Doch zur räumlichen Distanz zwischen Tel Aviv und Berlin und zum großen Altersunterschied – er ist Anfang 50, sie Mitte 30 – kommt noch eine historische Entfernung hinzu, die kaum zu überbrücken ist. Dass man in einer Beziehung nie allein (bzw. zu zweit), gilt für alle Paare. Man bringt die eigene Geschichte mit, die Geschichte der Eltern und Freunde. Und je später im Leben man sich trifft, desto mehr an Vergangenheit bringt man in die neue Konstellation mit.
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Keinland von Jana HenselErschienen 2017 bei Wallstein Verlag | Anzeige |
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Keinland von Jana HenselErschienen 2017 bei Wallstein Verlag |
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Nadja und Martin aber tragen noch mehr Last in sich. Sie entzweit die Geschichte zweier Länder, die so eng zusammenhängt, denn beide sind sie entstanden aus der gemeinsamen Geschichte und der Tatsache, dass die Vorfahren der einen die Täter und die Familie des anderen die Opfer des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte waren. In ihrer gemeinsamen Geschichte geht es mehr um wir und ihr als um du und ich. Und die immer mitgemeinten Millionen auf beiden Seiten lassen am Ende keine Versöhnung zu. Nadjas Wunsch – beide Herkunftsländer zu vergessen und gemeinsam ein neues, ein „Keinland“ zu gründen, in dem nur sie beide zählen – scheitert an der Allgegenwart der Vergangenheit.
Erinnerst du dich noch an unsere Nächte, Martin?
Oder soll ich sie eure Nächte nennen?
Ich nenne sie einfach eure Nächte, sie sind nämlich anders als anderswo.
Eure Nächte sind dunkle Tage. Ich lag oft wach, ich konnte es hören. Man ist in ihnen nie allein. In den langen und kurzen, in den warmen und heißen, den klaren und verregneten in eigentlich allen Nächten ist man höchstens einsam.
Einfühlsamer, vorsichtiger Roman über das Erinnern
Keinland trägt den Untertitel „Ein Liebesroman“, und natürlich geht es in diesem Buch vordergründig um die Liebesgeschichte zwischen Martin und Nadja. Doch diese Stream of Consciousness-Erzählung, in der Nadja vorsichtig tastend den Gründen nachspürt, aus denen die Beziehung nicht funktionieren konnte, obwohl sie beide sie doch wollten, ist viel mehr als eine einfache Liebesgeschichte. Es geht um die Herkunft, die das eigene Leben auch dann bestimmt, wenn man das eigentlich gar nicht möchte, um Verantwortung, die man trägt, auch wenn man selbst keine Schuld auf sich geladen hat, und vor allem um die Bedeutung des Erinnerns. Fast alle der Figuren in Keinland haben ein ausgeprägtes Gedächtnis, vergessen nichts. Und doch erinnert sich jeder an seine eigene Variation der Vergangenheit, an die Geschichte, die man sich selbst über die Jahre erzählt hat.