Auch ein Universitätsprofessor hat es nicht immer leicht, vor allem nicht finanziell, und das trotz guten Gehalts und Eigentumswohnung. Richard Kraft, rhetorisch begnadeter Philosoph und Germanist, erhält eines Tages eine Einladung seines alten Studienfreundes István, der sich mittlerweile Ivan nennt.
István/Ivan ist jedoch nur der Überbringer der Nachricht, denn eigentlich ist es der Millionär Tobias Erkner, der Kraft in die USA nach Stanford beordern möchte. Er hat einen Wettbewerb unter ausgewählten Intellektuellen ausgeschrieben, die in einem 18minütigen Vortrag die Theodizee begründen sollen, also die Gerechtigkeit Gottes trotz all der Leiden auf Erden. Natürlich erwartet Erkner vor allem eine Rechtfertigung des American God Kapitalismus, und der Gewinn für den besten Vortrag fällt entsprechend aus. Eine Million Dollar soll erhalten, wer am überzeugendsten erklärt, warum alle etwas davon haben, wenn es einigen besonders gut geht.
Kraft, unglücklich verheiratet und völlig überschuldet, ist sich der Tatsache bewusst, dass der Verkauf seines Intellekts an den Höchstbietenden eigentlich seiner Berufs- und persönlichen Ehre widerspricht, nimmt aber trotzdem an, weil ihn das Geld reizt und weil das Gefühl, zu den ausgewählten Teilnehmern zu zählen, seinen intellektuellen Stolz streichelt.
In dieser Nacht schrieb er eine lange Mail, in der er Ivan seine Zusage übermittelte und ihn bat, für vierzehn Tage sein Gast sein zu dürfen, bevor er sich, Rücken an Rücken, neben seine bereits schlafende Frau legte, selbst aber lange keinen Schlaf fand und sich, jede Viertelstunde die Glockenschläge der Stiftskirche zählend, langsam in eine Wut hineinsteigerte; eine Wut, gespeist aus Heikes regelmäßigem Atmen, das ihm unangemessen friedlich vorkam, und dem Gefühl des Versagens angesichts der Tatsache, dass der Ausweg aus der Sackgasse, in die er sein Leben hineinmanövriert hatte, sich nicht, wie er immer angenommen hatte, im scharfen Nachdenken über die Welt – als solches bezeichnete er gerne Dritten gegenüber seine Profession, die er sich zugleich als Lebensform verordnet hatte -, sondern, wie es nun ganz offen zutage trat, doch einfach im Monetären fand, auch wenn, aber das schien ihm eher eine zusätzliche Kränkung, das erlösende Geld mit ebenjenem scharfen Nachdenken über die Welt erst einmal gewonnen werde musste.
Professor Kraft auf Abwegen
Im Heimatland des Kapitalismus angekommen, verzweifelt Kraft an seiner Aufgabe. Obwohl er – wie man in Rückblenden erfährt – als Student in den 1980er Jahren gemeinsam mit Freund István für eine Liberalisierung der Märkte eingetreten ist, stellt er jetzt fest, dass sein Weltbild sich gravierend geändert hat. Gründer, die die Metaisierung der digitalen Welt vorantreiben, Visionäre, die die Welt vor allem in ihren Träumen ändern und Stanford-Absolventen, die ihre Produktivität erhöhen, indem sie sich von der Flüssigmahlzeit Soylent ernähren, öffnen Kraft die Augen. Eine Antwort auf die Frage zu finden, warum alles so gut ist, wie es ist, ist gar nicht so einfach, wenn man schon von der Ausgangshypothese nicht überzeugt ist.
Kraft schaudert. Das also ist die Zukunft. Nein, viel schlimmer noch, die Gegenwart: Man nehme eine menschliche Tätigkeiten – in diesem Fall das Essen -, befreie sie von allen kulturellen Bedeutungen, von allen historischen Bezügen, von allem emotionalen Ballast, bist man den nackten, vermessbaren Kern vor sich hat.
Jonas Lüscher stand 2013 mit seinem Debütroman Frühling der Barbaren auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Kraft knüpft inhaltlich am Thema dieses Romans an. Auch hier zeigt Lüscher, sogar noch eindrucksvoller, die Folgen des Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus. Anhand der Wandlung von Kraft selbst, der in seiner Studienzeit damit kokettiert, Thatcher zu folgen, und später entgeistert vor den Jüngern seiner eigenen Thesen steht, schildert er die Wandlung der Welt aus den Zeiten des Kalten Krieges bis hin zu Start-up-Hype und New New Economy.
Kraft ist gleichzeitig von sich selbst eingenommenen und von Selbstzweifeln durchdrungen. In seiner Überzeugung, mit allem im Recht sein zu können, wenn er nur die passenden Argumente hervorzaubert, kann er selbst als Symbol für eine Gesellschaft stehen, die staunend die Konsequenzen ihres Handelns betrachtet – so als hätte vorher niemand gesagt, was passieren würde. Überhaupt zieht sich durch den Roman immer wieder die Kapitulation vor dem Recht des besser Redenden. Ragnar Danneskjöld – ein Namensvetter des Steuern an die zahlenden Unternehmer zurückgebenden Piraten aus Ayn Rands Kapitalismusbibel Atlas Shrugged – möchte in internationalen Gewässern neue Gesellschaftsmodelle ausprobieren und findet alleine aufgrund seiner Vision und schönen Worte Geldgeber wie Anhänger gleichermaßen.
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Kraft von Jonas LüscherErschienen 2017 bei C.H.Beck | Anzeige |
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Kraft von Jonas LüscherErschienen 2017 bei C.H.Beck |
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Lüschers Roman ist unglaublich tief und vielschichtig, teilweise komisch in der Beschreibung der tragischen Figur Kraft, und immer auf dem argumentativen Niveau seiner Hauptfigur selbst. Die Zitate, die im Buch eingestreut sind, nehmen einen mit auf eine Reise zwischen Religion, Kapitalismusgläubigkeit und Pop-Kultur, den Eckpfeilern unserer modernen Gesellschaft. Jeder Satz trifft, und während Kraft Gründe dafür sucht, warum alles gut ist, wie es ist, wird Hauptfigur und Leser immer klarer, dass nichts gut ist.
Achtzehn Minuten, das ist zu kurz, um die Verworfenheit der Welt in ihrer Gesamtheit zu beschreiben.
Kraft hat mich vom ersten bis zum letzten Satz gefesselt. Es ist keine Story über einen Helden, sondern eine Erzählung über Zusammenhänge, über individuelle Verantwortung und am Ende darüber, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt – egal, wie gut die Argumente dafür scheinen.Google