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Auf der Flucht vor sich selbst

von Yvonne

An sich sind es Luxus-Probleme, mit denen die Geschwister Laurens und Finn zu kämpfen haben. Laurens kämpft in der Schule mit der französischen Sprache und Hänseleien eines Mitschülers, die 15jährige Finn verdächtigt ihren ein Jahr jüngeren Bruder, heimlich Frauenkleider zu tragen, dabei fühlt der sich einfach im begehbaren Kleiderschrank der verschwundenen Mutter am wohlsten. Und dass er bei der Pariser Tante deren Strümpfe unter der Matratze versteckt hielt, ist eher ein Ausdruck der Schwärmerei für die fast 30 Jahre ältere Frau. Auch Finn richtet ihre ersten Schwärmereien nicht auf Gleichaltrige, sondern ist fasziniert von Männern um die 30.

Das enge Band zwischen den Geschwistern kommt wohl daher, dass sie niemand anderen haben. Seit die Mutter die Familie verlassen hat, leben sie mit Hund, Katze, Dienstmädchen und Vater gemeinsam im Hamburger Vorort, und das große Haus und die Annahmlichkeiten betuchter Eltern können sie nicht darüber hinwegtrösten, dass sie die Strenge des Vaters und seine Einstellung zu seinen Kindern hassen. „Reeder“ nennen sie ihn bei seinem Beruf, der er zu sein scheint, oder – wenn es ganz dicke kommt – „der Feind“.

Nachtwärts nach Wien

Ein Lichtblick zwischen gesellschaftlichen Anlässen, bei denen man vorgezeigt werden muss, und Vernachlässigung durch den Vater ist der alljährliche Winterausflug der Geschwister zur Tante nach Paris. Ohne den verhassten Reeder an der Seite sollen sie ein paar Tage bei der „Ersatz-Mutter“ verbringen, die sich durch liebevolle Zuneigung einerseits und durch schiere Anwesenheit andererseits von den echten Eltern positiv abhebt. Doch etwas geht schief auf der Reise: Der Reeder, der in seinem Maserati den Bahnhof nicht schnell genug verlassen kann, vergisst, sich zu überzeugen, dass seine Kinder im richtigen Zug sitzen, und so tun sie es nicht. Eine Leerfahrt von Hamburg nach München haben sie „erwischt“, wie sich herausstellt, doch ganz leer ist der Zug nicht. Während Laurens und Finn sich gerade an die Vorstellung gewöhnt haben, irgendwo anders als in Paris anzukommen, und sich ausmalen, wie es wäre, den Vater glauben zu lassen, sie seien entführt worden, gibt sich ein weiterer Passagier der Leerfahrt zu erkennen: der „Prinz“ schlägt den Geschwistern vor, die Idee einer fingierten Entführung in die Tat umzusetzen und bietet seine „Hilfe“ an.

Einfühlsam, nachvollziehbar und offen erzählt Thomas Palzer in Nachtwärts aus der Sicht zweier Jugendlicher, denen es im Leben an nichts fehlt und doch an so vielem. Spannend wie ein Krimi liest man über den undurchsichtigen „Prinzen“, die Gefühle der Geschwister und die Probleme des Reeders. In häufig wechselnden Perspektiven erhält man ein vollständiges Bild der Situation. Aus der Nebenfigur Finn wird schließlich die zentrale Figur, die sich vom Vater löst, indem sie sich einen Ersatz für ihn sucht. Nachtwärts ist eine gleichzeitig spannende und sensible Geschichte über das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten von Jugendlichen, die trotz aller Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, dennoch auf sich selbst gestellt sind.

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