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Tausend Jahre weiter und doch genau so weit

von Yvonne

Ein paar Jahrtausende scheinen sie uns voraus zu sein, die Bewohner des Sonnensystems, das Leif Randt in seinem aktuellen Roman Planet Magnon nicht nur ausführlich beschreibt, sondern sogar mit einer Sternenkarte bebildert und mit Hilfe eines extrem lesenswerten Glossars ausführlich erläutert. Staatsgrenzen, Kriege, Politiker und über persönliche Accessoires hinausgehendes Besitztum sind abgeschafft, sein vor knapp 50 Jahren ActualSanity eingeführt wurde, ein Betriebssystem, das auf einem Shuttle durch das Sonnensystem fliegt, genaue statistische Berechnungen anstellt und die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel möglichst gerecht verteilt. AS, so die Abkürzung für den Regierungsersatz und außerdem die Bezeichnung einer neuen Zeitrechnung, ist zwar nicht unfehlbar, lernt aber weitaus schneller als jeder Mensch und stellt so sicher, dass die Bewohner der Planeten Blink, Blossom, Cromit, Sega, Snoop und Toadstool (letzterer allerdings bis auf durch AS ausgeloste Arbeiter unbewohnt, da es sich um den Müllplaneten handelt) stets auf einem möglichst hohen Zufriedenheitslevel leben.

Als Organisationsstruktur haben die Menschen das Kollektiv gewählt, das am ehesten noch einer Religion vergleichbar ist. Manche Kollektive sind zugangsbeschränkt, andere nicht, teils werden sie durch sogenannte Spitzenfellows repräsentiert oder aber sind völlig hierarchiefrei aufgebaut – gemein haben die Dolfins, Zeldas, Kellys, Voltas und Post-Voltas, dass ihre Mitglieder ähnliche Wertvorstellungen haben, gemeinsame Freizeitvorlieben und sich alle gegenseitig Verlogenheit vorwerfen. Außerdem geben alle Kollektive mögliche Wege zur persönlichen Entwicklung vor, sei es durch Meditationsübungen, Körperkult oder bewusstseinserweiternde Substanzen. Das Internet wurde durch Actual Sanity abgeschafft, stattdessen gibt es nun regionale Netze, auf die man mit seinen Individualtelefonen zugreifen kann, und die – weil es sich nun schon mal durchgesetzt hat – auch Internet heißen. Paarbeziehungen sind nahezu gänzlich abgeschafft und auf sehr kurze Zeiträume begrenzt bzw. den „Best-Agern“ vorbehalten, die ohnehin nicht mehr lange zu leben haben.

Marten Eliot und Emma Glendale, beide schon als Jugendliche Mitglieder der Dolfins, sind Spitzenfellows der Early-Ager ihres Kollektivs. Ihre Aufgabe ist es, die Dolfins zu repräsentieren und Wechselwillige sowie Kollektivlose von den Vorzügen des Kollektivs zu überzeugen. Dazu gehört, dass sie auf Plakaten auf Sauropoden reiten oder in Vorträgen die Wirkungsweise der Dolfin-eigenen Celius-Übungen – die stark an Autogenes Training erinnern – vorzustellen. Die größte Errungenschaft der Dolfins hat die Außenwelt aber noch gar nicht erreicht: Die neue Substanz Magnon, mit der Marten und Emma bereits seit dem Abschluss der Schulzeit experimentieren. Die Wirkungsweise von Magnon scheint genau das Ziel dieser friedvollen, durch und durch geregelten und von Betäubungsmitteln weichgespülten Welt: Magnon löst eine „Metaeuphorie“ aus, eine emotionale Distanz und die gleichzeitige Freude darüber. Wer Magnon nimmt, ist mit der Welt im Reinen – und schläft anschließend ein paar Stunden lang tief und fest.

Der Traum von Planet Magnon

Der Friede in der Planetengemeinschaft wird durcheinandergebracht, als ein neues Kollektiv unerwartet auf den Plan tritt, das sich selbst das „Kollektiv der gebrochenen Herzen“ nennt. Die aus dem Untergrund agierende Gruppierung hat sich vorgenommen, das Leid als zum Menschen zugehörige Emotion wieder zurück in die Gesellschaft zu bringen und akzeptabel zu machen. Durch Anschläge auf zentrale Stätten der anderen Kollektive machen sie auf sich aufmerksam und locken vor allem viele junge Menschen an. Marten und Emma müssen ihre Werbe-Tour unterbrechen und sich auf die Suche nach dem Mädchen mit der Tigermaske, der Anführerin der gebrochenen Herzen, begeben.

Leif Randt schafft in Planet Magnon ein bis ins letzte Detail ausgearbeitetes Gesellschaftssystem, das an der Oberfläche perfekt wirkt, weil Gerechtigkeit und Frieden verwirklicht wurden und das Leiden abgeschafft. Leider bedeutet das auch für die Bewohner des Sonnensystems, dass sie nur an ihrer eigenen Oberfläche bleiben können – ihr Leben dreht sich um Meditation, Drogen und den neuesten Almanach-Eintrag. Für wirkliche zwischenmenschliche Beziehungen – ob nun sexueller oder freundschaftlicher Art – fehlt ihnen jegliche Fähigkeit, da diese Form der Interaktion zwangsläufig Leid mit sich bringt.

Diese Welt, die eine durchaus denkbare Fortsetzung unserer eigenen ist, hat den Hedonismus zum Lebensziel aller erkoren. In diesem „Postpragmatismus“ ist der Mensch sich selbst und seinen Emotionen so sehr entfremdet, dass das willkürliche Hervorrufen einer Gänsehaut das einzige Erschauern ist, das er noch erleben kann. Beziehungen sind auf Sex oder oberflächliche Kommunikation reduziert (oder beides) und verhindern so konsequent, dass man verletzt wird – so lange man sich selbst überzeugt, dass man unverletzbar ist. Casual Dating- Webseiten und Tinder lassen grüßen.

Neben den vielen Details, die nicht nur eine ganze Welt, sondern ein vollständiges Sonnensystem vor dem inneren Auge entstehen lassen, und die vor allem im eingangs erwähnten Glossar extrem witzig beschrieben sind, fällt an Planet Magnon vor allem die sehr nüchterne Sprache auf, die Hauptfigur Marten Eliot noch entrückter, noch distanzierter wirken lässt – ein echter Dolfin beobachtet und kategorisiert eben nur, Wertungen persönlicher Natur, Emotionen gar, sind nicht vorgesehen.

Leif Randt wurde für seinen Debütroman Schimmernder Dunst über Coby County vielfach ausgezeichnet und gilt seitdem als wichtiger Vertreter der jüngeren Autoren-Generation. Planet Magnon ist sein zweiter Roman.

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1 Kommentar

Preis der Leipziger Buchmesse 2020 - Die Nominierten - Piles to go 12. Februar 2020 - 21:09

[…] habe, habe ich mich sehr über die nominierten Titel gefreut. Die letzten Bücher von Leif Randt (Planet Magnon) und Ingo Schulze (Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst.) habe ich sehr […]

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