Simone Grolmann führt ein Leben, das wie die Fortsetzung des Lebens ihres Vaters scheint. Wie er ist sie Affenforscherin, hat sogar die Leitung des Instituts übernommen, das aus seiner Arbeit hervorging. Ihre Angst vor Schnee ist wie ein geerbtes – oder anerzogenes – Trauma, das der als Kind während des Kriegs von Schlesien geflohene Vater an seine jüngere Tochter weitergegeben hat. Eustachius Grolmann dagegen wirkt auf den ersten Blick kein bisschen traumatisiert, maximal ein wenig zwanghaft, wenn er selbst im Museum versucht, Bilderrahmen gerade zu rücken oder auch auf den genauen Ausweis der letzten neun Monate bei seiner Altersangabe – zweiundachtzigdreiviertel – besteht.
Auch wenn Simone sich einen etwas nahbareren Vater wünscht, ist das Verhältnis der beiden fürsorglich und liebevoll. Für Simones Tochter Esther empfindet Eustachius sogar die Vater-Gefühle, die er in Simones Kindheit vermissen ließ. Als Simone jedoch von der Bank einen Anruf erhält, dass der Vater mehr als 430.000 Euro Schulden gemacht hat – das Analyse-Programm der Bank meint, auf Grund der Abhebe-Beträge und -Abstände herausgefunden zu haben, dass er eine junge Geliebte hat – beginnt Simone, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Sieben Sprünge vom Rand der Welt in die persönliche Erinnerung
Da der Vater sich ihr nicht öffnen will, nimmt sie ihm das Versprechen ab, einen Psychologen aufzusuchen, der ihr versichern soll, dass der Vater keine ernsthaften Schwierigkeiten hat. Den Psychologen wählt Simone selbst aus: Boris Nienalt, spezialisiert auf durch Vertreibung traumatisierte Kriegskinder. Dass Nienalt eine äußerst angenehme Radio-Stimme hat, spricht nicht nur für ihn, sondern wird ihm von Simone gleich in der ersten Mail mitgeteilt.
Nienalt schafft es tatsächlich, dem Vater – zumindest auf den ersten Blick – das Geheimnis über den Verbleib des Geldes zu entlocken, und erfährt darüber hinaus von Eustachius‘ Vertreibungstrauma, in dem der große gehbehinderte Bruder Emil eine entscheidende Rolle spielt.
In wechselnden Perspektiven erzählt Sieben Sprünge vom Rand der Welt eine generationenübergreifende Geschichte über Trauma und Erinnerung. Die aufgegriffenen Themen sind vielfältig und reichen von der Frage, ob Vererbung oder Sozialisierung prägender ist, über die grundsätzliche Debatte über die Existenz eines freien Willen bis zu „vererbter“ Erinnerung. Darüber hinaus ist Sieben Sprünge über den Rand der Welt eine weit verzweigte, tiefe, vielschichtige und vor allem toll zu lesende Geschichte. Die Handlung ist überraschend, ohne absurd zu werden, die Sprache bildgewaltig und spielerisch, jedoch nie pathetisch. Wer nach der Lektüre des 560 Seiten starken Romans noch nicht genug hat, findet außerdem umfangreiche Hintergrundinformationen über das Buch, die Autorin und den Schreibprozess auf der Seite der-siebte-sprung.de.
Sieben Sprünge vom Rand der Welt ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2014.