Es gibt Freundschaften, die sind so ungewöhnlich, dass man sie sich nicht ausdenken könnte. Charlie Chaplin, aus armen Verhältnissen stammend, dem Kommunismus nicht abgeneigt und der größte Star seiner Zeit, fand ausgerechnet im 15 Jahre älteren Winston Churchill, Spross des britischen Hochadels und konservativer Regierungsbeamter eine seiner wichtigsten Stützen – und umgekehrt. Auf einer Hollywood-Party lernen die beiden sich Ende der 1920er Jahre kennen, als Churchill gerade Schatzmeister Seiner Majestät und Chaplin bei der Presse durch eine Hetz-Kampagne, seiner Ex-Frau in Ungnade gefallen ist. Am Strand, in der Dämmerung, nimmt jeder der beiden nur einen anderen Mann war, der wie er selbst abseits steht und sich selbst vom Party-Geschehen ausschließt.
Schon in den ersten Sätzen, die die beiden miteinander wechseln, wird ihnen die sie verbindende und gleichzeitig von ihrer Umwelt trennende Gemeinsamkeit klar. Als der genaue Beobachter Churchill dem Schauspieler auf den Kopf zu sagt, dass er ihn für jemanden hält, der über Selbstmord nachdenkt, kann Chaplin nicht anders, als dies zu bejahren. Auch Churchill leidet seit seiner Kindheit an Depressionen. Beide haben zum ersten Mal im Alter von sechs Jahren darüber nachgedacht, ihr Leben beenden zu wollen. Dies und noch mehr über das Leben mit dem „schwarzen Hund“ erzählen sich die zwei Herren am Strand, während sie von der Party weg- und anschließend, um einiges erleichtert, zurück spazieren. Schon am nächsten Tag schließen sie einen Pakt: Sobald der eine von ihnen in einer Depression steckt, eilt der andere zu Hilfe. Denn für beide ist es das erste Mal, dass sie mit jemandem über die Aussichtslosigkeit, die Sehnsucht nach dem Tod und die alles umschließende Dunkelheit in ihren Empfindungen sprechen können.
Über Jahrzehnte hinweg halten die beiden ungleichen Männer ihr versprechen, geben sich Halt und tauschen Methoden aus, die Depression vielleicht nicht in den Griff zu bekommen, aber ihr zumindest besser gewachsen zu sein.
Zwei Herren am Strand zwischen persönlicher und Weltgeschichte
Zwei Herren am Strand ist zum einen eine wunderbare Geschichte über eine Freundschaft, die den gängigen Anforderungen an gleiche Interessen und gleiche Werte trotzt und der ein gemeinsames Problem als Basis reicht, zum anderen eine tragische Geschichte über das lebenslange Gefühl des Ausgeliefertseins an die Depression. Dabei bettet Michael Köhlmeier die Geschichte der Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Männern in die Weltgeschichte ein, auf die beide auf ihre Weise Einfluss nahmen.
Denn es gibt ja letztlich auch eine politische Gemeinsamkeit, die die beiden Freunde ein paar Jahre nach ihrer ersten Begegnung trotz aller Meinungsverschiedenheiten verband: Ihren unebdingten Willen, gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen, mit den Mitteln, die ihnen jeweils zur Verfügung standen. Churchill war bereits ein sehr früher Gegner der britischen Appeasement-Politik und – nach Jahren, in denen seine politische Karriere als beendet galt, derjenige, der schließlich dafür sorgte, dass dem Deutschen Reich der Krieg erklärt wurde. Chaplin dagegen schaffte mit seinem ersten Tonfilm Der große Diktator in den USA Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit für die politische Situation in Europa. Und so ist Zwei Herren am Strand nicht nur eine Geschichte zweier bedeutender Männer, sondern auch eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, dem diese beiden prägend und noch heute spürbar ihren jeweils ganz eigenen Stempel aufgesetzt haben.
Michael Köhlmeier zitiert in seinem Roman aus verschiedenen Chaplin- und Churchill-Biographien, belegt seine Nacherzählung der Freundschaft wischen den beiden an Hand etlicher Quellen, Briefe und Interviews. Außerdem gibt er der Geschichte eine Art Rahmenhandlung, die auch den Erzähler selbst in die Nähe der Depression – oder zumindest der Möglichkeit einer solchen – rückt und auch ihn im Alter von sechs Jahren das Ende seines Lebens herbei sehnen lässt.
Zwei Herren am Strand ist für den Deutschen Buchpreis 2014 nominiert.