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Zwischen Ironie und Thriller

von Yvonne

Polykrates war ein griechischer Tyrann, dem es Zeit seines Lebens so gut ging, dass am Ende nur noch größtmögliches Unglück auf ihn warten konnte – eine Steigerung des Glücks war nicht mehr möglich. Auch Artur, ambitionsloser Akademiker aus Wien, der lieber im Copy-Shop jobbt und Nachhilfe-Stunden gibt, statt den erlernten Lehrerberuf auszuüben, hält sich selbst für so ungerechtfertigt mit Glück gesegnet, dass er, um dem Unglück auszuweichen, Opfer im Leben bringen muss. Er nennt das das Polykrates-Syndrom.

Als Polykrates-Kranker hat man dieses Schicksal immer im Kopf, man fürchtet, zu viel Glück zu haben und irgendwann dafür bestraft zu werden, darum bemüht man sich ständig, Opfer zu bringen.

Dankbar für seine rechthaberische Frau Rita, der jüngsten Schuldirektorin überhaupt, und seinen aus seiner Sicht perfekten Job, kann Artur sein Glück kaum fassen, als eine junge und schöne Unbekannte den Copy-Shop betritt und auf dem Kopierer eine handgeschriebene Nachricht – wahrscheinlich für ihn – hinterlässt: „Hübsches Hemd.“ Der solchemaßen Angesprochene zögert kaum und begibt sich auf die Suche nach der jungen Frau – seiner Selbsteinschätzung folgend ungewöhnlich für ihn und darüber hinaus ein großer Fehler. Denn als er ihr schließlich bis fast vor ihre Haustür folgt, wird sie von einem wahren Hünen festgehalten, und Arturs Einmischung endet für ihn mit einer Platzwunde und einem blauen Auge.

Dennoch ist das nicht die letzte Begegnung mit der Fremden – Alice, wie sie sich vorstellt, als sie ihn ein paar Tage später zum Dank in ein Café einlädt. Artur, seit Jahrzehnten treu, zweifelt an sich selbst und will sich tatsächlich auf ein Abenteuer einlassen, denn eher er sich versieht, hat er sich in Alice verliebt.

Vielleicht würde sich eine Freundschaft zwischen uns entwickeln – warum sollten ein Mann und eine Frau keine Freundschaft unterhalten können? –, irgendwann würde ich sie Rita vorstellen, und auch Rita, dachte ich, würde sie nett finden, und sie würde eine Freundin des Hauses werden wie Ritas idiotische Lehrerkollegin Sylvia, und ich dachte noch einiges mehr von dem, was man denkt, wenn man sich verliebt hat und weiß, dass man das nicht hätte tun sollen.

Das Polykrates-Syndrom: Auf unfassbar viel Glück folgt unfassbar viel Unglück

Eheliche Treue allerdings ist bald eines der geringeren Probleme, die Artur hat, denn die Verbindung mit Alice zieht ihn unversehens in einen Kriminalfall, in den er auch deswegen verwickelt ist, weil er um keinen Preis seine Ehe gefährden möchte.

Das Polykrates-Syndrom beginnt leicht, fast satirisch, und Antonio Fian zeichnet sich als hervorragender und glänzend komischer Beobachter aus, wenn er seinen Protagonisten beispielsweise in der Altbau-Wohnung Vorhänge anbringen und über die unterschiedliche Baustruktur der Wand verzweifeln lässt. Die ungeschickten und von gutem Willen und schlechter Ausführung geprägten Annäherungsversuche an Alice sind wunderbar selbstironisch geschrieben, so dass die Wendung hin zu einem veritablen Thriller unerwartet kommt, jedoch keineswegs unpassend ist. Aus mildem Sarkasmus wird düstere Bitterkeit, wenn die beiden „Helden“ tun, was zu tun ist, um sich selbst zu retten.

Das Polykrates-Syndrom ist für den Deutschen Buchpreis 2014 nominiert.

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